In diesem Jahr hat der Bundesverband die Maus in der Autismusforschung zum „Versuchstier des Jahres“ ernannt. Aus gutem Grund, denn obwohl wissenschaftlich umstritten ist, welche Phänomene zum Spektrum der Autismus-Störungen gehören, wird der Autismus an gentechnisch veränderten „humanisierten“ Mäusen erforscht. Und dies, obwohl die Übertragbarkeit der Forschungsergebnisse höchst fragwürdig und die genetische Manipulation mit großem Tierleid verbunden ist. Dabei liefern tierversuchsfreie humanspezifische Methoden, wie Krankheitsmodelle aus menschlichen Zellen oder Verfahren auf Basis von Künstlicher Intelligenz, beeindruckende Ergebnisse. Mit der Ernennung will der Tierrechtsverband auf das versteckte Leid der Tiere in den Laboren aufmerksam machen. Gleichzeitig fordert er die verstärkte Entwicklung tierfreier Verfahren ein.
Die Maus ist seit Jahrzehnten das Versuchstier Nr. 1 in Deutschland. Im Jahr 2021 wurden 1.342.779 Mäuse im Tierversuch eingesetzt, das waren 72,21 % aller Versuchstiere. Die Zahl ist so hoch, dass sie schwer zu fassen ist. Von diesen Mäusen waren rund 60 % gentechnisch verändert.
Die amtlichen Versuchstierzahlen lassen keine direkten Rückschlüsse auf die Zahl verbrauchter Mäuse in der Autismusforschung zu. Aus diesem Grunde basieren unsere Abschätzungen der Tierzahlen, die für die Autismusforschung verwendet wurden, auf den nicht-technischen Projektzusammenfassungen (NTPs). Die Maus ist seit einiger Zeit das Tier in der Autismusforschung: Während die Zahl der genehmigten Mäuse 2019 noch bei 23.582 und 2020 bei 25.265 lag, stieg sie in 2021 und 2022 bereits auf über 77.000 Tiere an.
Stimmungsstörung Autismus: Kein einheitliches Krankheitsbild
Die sogenannten „Autismus-Spektrum-Störungen“ werden zwar gemeinhin als eine neurologische Entwicklungsstörung angesehen, es ist aber noch unklar, ob es sich bei den verschiedenen Ausprägungen um eine „Störung“, eine „Behinderung“ oder lediglich um einen „Unterschied“ handelt. In geringem Maße sollen Umweltbedingungen eine Rolle spielen, doch in mehr als 90 % der Fälle soll die Störung vererbt sein. In genetischen Studien zu Autismus-Spektrum-Störungen wurden bereits mehr als 100 Gene mit hohem Risiko identifiziert und es wird geschätzt, dass in Zukunft mehrere hundert weitere Gene dieser Art folgen werden. Daher wird die Störung an Mäusen erforscht, die eigens dafür gentechnisch verändert werden.
Die Maus in der Natur und im Labor
Die in der Wissenschaft eingesetzten Labormäuse sollen allesamt von der Hausmaus (Mus musculus) abstammen. Wissenschaftler:innen und Wissenschaftler forschen mit der Maus, weil sie klein ist, leicht zu halten und weil sie eine schnelle Reproduktion mit hoher Nachkommenzahl aufweist.
In der Natur leben Mäuse in festen Sozialverbänden, sie brauchen die ständige Interaktion mit ihren Artgenossen. Die Kommunikation spielt sich über Duftstoffe und Laute – vor allem im Ultraschallbereich – ab.
Kurzes Leben in kleinen Käfigen
Im Labor dagegen sieht das Leben einer Maus ganz anders aus. Mäuse werden schnell vermehrt und in großer Zahl auf kleinem Raum halten. Nach Europäischer Tierversuchsrichtlinie EU/63/2010 steht Mäusen in der Vorratshaltung und während der Versuche im Labor lediglich eine Fläche von nur 60 bis 100 Quadratzentimetern pro Tier bei 12 Zentimeter Höhe zur Verfügung. Ein Zuchtpaar bekommt nach Verordnung eine Fläche von 330 Quadratzentimetern bei 12 Zentimeter Höhe zugestanden. Die Haltung ist nicht annähernd tiergerecht, da die Mäuse ihre Bedürfnisse z. B. nach ausreichender Bewegung, Klettern und Nagen nicht erfüllen können.
Leid der genmanipulierten Tiere
Gen-Mutationen, die syndromale Formen der Autismusstörung verursachen, wurden bereits vor über 20 Jahren identifiziert. Da die meisten Autismus-Tier„modelle“ nur Autismus-ähnliche Verhaltensweisen zeigen, setzen Wissenschaftler:innen auf humanisierte Mäuse, bei denen eine menschliche Mutante oder eine strukturelle Kopienzahl-Variation im Genom angezüchtet worden ist. Um Gene stillzulegen, werden lebende Mäuseembryonen aus dem Uterus des trächtigen Mäuseweibchens entnommen, genetisch manipuliert und dann wieder in die Körperhöhle zurückgeschoben. In bestimmten Entwicklungsabständen wird eine Reihe von Muttertieren durch Genickbruch getötet und die Föten entnommen, um ihr Gehirn zu untersuchen. Ein Teil der Nachkommen darf ganz ausgetragen werden und kommt in den Versuch. Die Tiere werden nach Geschlecht getrennt und Verhaltenstests unterzogen.
Leistungstests und Vergiftungen
Zu den Tests zählen z.B. das Elevated Plus Labyrinth (EPL). Das Modell basiert auf der Abneigung der Versuchstiere gegen offene Räume und ihrer Tendenz, sich dahin zu bewegen, wo sie sich sicherer wähnen. Im EPL äußert sich diese Angst dadurch, dass das Tier mehr Zeit in den geschlossenen Bereichen verbringt. Andere Tests sind die Aktivität in einem offenen Feld, das Rotarod, ein Leistungstest, bei dem die Tiere auf einem rotierenden Stab balancieren müssen. Weitere sind der Drei-Kammer-Test, ein Test zur sozialen Annäherung oder ein Test des Geruchssinns mit vergrabenem Futter. Um umweltbedingte Risikofaktoren für Autismus zu untersuchen, werden zudem trächtige Mäuseweibchen toxischen Chemikalien (wie z. B. Valproinsäure) ausgesetzt. Dies wird gemacht, obwohl eingeräumt wird, dass das Verständnis für pathophysiologische Mechanismen in solchen Modellen begrenzt ist.
Alternative Ansätze
Neue Studien zur molekularen Pathophysiologie des Autismus z.B. mit Hilfe von induzierten pluripotenten Stammzellen oder in vitro-Krankheitsmodellen bieten. Möglichkeiten für das Screening von Medikamenten und die Krankheitsdiagnostik. Auswirkungen von Umweltchemikalien und deren Mixturen auf das sich entwickelnde Gehirn lassen sich besser mit in vitro-Nervenzellkulturen oder Organ-on- a-Chip-Technologien, in Kombination z.B. mit Plazentagewebe untersuchen. Hier sind einige Beispiele für die Forschung mit tierfreien Methoden:
1. Ein französisches Forscherteam hat durch magnetresonanztomografische Untersuchungen (MRT) eine für Autismus typische Hirnstruktur entdeckt: eine weniger ausgeprägte Falte des Broca-Areals. Das Broca-Areal ist für Sprache und Kommunikation verantwortlich – Funktionen, die bei einer bestimmten Autismus-Variante gestört sind.
2. Ein Forscherteam aus Österreich, Italien und den USA hat Hirnorganoide aus Patientenzellen und zum Vergleich von gesunden Probanden entwickelt, um die Ursachen von Autismus-Spektrum-Störungen bei der Frühentwicklung des Gehirns besser zu verstehen.
3. Wissenschaftler:innen gelang es, mit einem aus pluripotenten menschlichen Stammzellen abgeleiteten Modell der frühen Hirnentwicklung zu zeigen, dass relevante therapeutische Konzentrationen eines Antidepressionsmittels (Paroxetin) Anomalien in der Entwicklung von Gehirnzellen auslösen, die zu unerwünschten Wirkungen bei der Entwicklung von Nachkommen im Mutterleib führen könnten.
4. Zellkulturen, bestehend aus den Zelltypen Neuronen und Astrozyten sind geeignet, um Stoffgemische auf ihre entwicklungsneurotoxikologische Wirkung hin zu untersuchen. Künstliche Intelligenz (KI) kann nicht nur für die Diagnose der Erkrankung genutzt werden, so z.B. FreeSurfer, sondern auch zur Identifizierung von Biomarkern. Deep-Learning-Technologien können in das bestehende Autismus-Screening eingebettet werden, um die Beteiligten bei der Früherkennung von Autismus-Merkmalen zu unterstützen.
Ausblick
Es gibt trotz der zahlreichen Tiermodelle nur ein begrenztes Verständnis der zugrundeliegenden Neurophysiologie(n) von Autismus, begrenzte Belege für die Wirksamkeit bestehender Wirkstoffe in Autismus-Populationen und nur eine begrenzte Übertragung der Ergebnisse für neue Wirkstoffe in Tier-/Zellmodellen auf Studien am Menschen. Auch wenn sich Verhalten nicht in vitro darstellen lässt, sollten deshalb zunächst die Grundlagen der genetischen und epigenetischen Veränderungen in vitro in Kombination mit der Identifizierung von Signalwegen mit KI und Deep Learning-Plattformen erforscht werden. Erst, wenn das Autismus-Spektrum klassifiziert werden kann, kann überhaupt über eine Therapie nachgedacht werden. Tierversuche sind der falsche Weg, weil viele Störungs„bilder“ nur durch die Kommunikation mit den Betroffenen überhaupt geklärt werden können. Behandlungsmöglichkeiten gibt es derzeit kaum, eine Perspektive wäre der Ansatz einer integrierten Teststrategie mit in vitro-/in silico-Methoden, ähnlich, wie er bereits für die Entwicklungsneurotoxizität entwickelt worden ist.
Maßnahmenpaket umsetzen
Der Bundesverband Menschen für Tierrechte setzt sich auf wissenschaftlicher, politischer und gesellschaftlicher Ebene für die Abschaffung des Tierversuchs ein. Um dies zu erreichen, hat der Verband einen Maßnahmenkatalog zum Ausstieg aus dem Tierversuch zusammengestellt und fordert von der Politik eine Gesamtstrategie für eine tierleidfreie Wissenschaft. Ganz oben auf der Liste der notwendigen Maßnahmen steht der massive Ausbau der tierversuchsfreien Forschung, insbesondere durch die Erhöhung der Forschungsgelder innerhalb Deutschlands und in der EU. Ebenso unentbehrlich sind neue Kriterien bei der Vergabe von Fördermitteln sowie die Förderung von Nachwuchs Wissenschaftler:innen.
Schirmherrin Petra Martin
Der Bundesverband Menschen für Tierrechte dankt Petra Martin für die Übernahme der diesjährigen Schirmherrschaft für das „Versuchstier des Jahres“. Die engagierte Gründerin der „Stiftung Zukunft jetzt!“ setzt sich privat und mit ihrer Stiftung für tierversuchsfreie Forschungsmethoden ein. Ihr Ziel ist ein Paradigmenwechsel weg vom vermeintlichen Goldstandard Tierversuch hin zu einer modernen, am Menschen orientierten Forschung.
Hier lesen Sie ihr Grußwort: www.tierrechte.de
Hier können Sie sich eine ausführliche Broschüre zum Versuchstier des Jahres 2023 (16 Seiten) als PDF herunterladen.