Am 9. Juni 2024 können die EU-Bürger:innen ihre Vertreter:innen für das EU-Parlament für die nächsten fünf Jahre wählen. Diese Wahl ist richtungsweisend. Nicht nur in Bezug auf den Tierschutz. Die Zusammensetzung von EU-Kommission und Parlament wird darüber entscheiden, ob die EU am Green Deal festhält und ihre ambitionierten Pläne für mehr Tier-, Klima-, Umwelt- und Artenschutz umsetzt. Es geht ums Ganze. Deswegen nutzen Sie Ihre Stimme – für den Schutz von Tieren, Klima und Umwelt und für die Rettung der Demokratie.
Der Bericht des EU-Klimawandeldienstes Copernicus und der Weltwetterorganisation (WMO) bestätigt, wovor Klimaforscher: innen seit Langem warnen: Das Jahr 2023 war das wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen. Mit im Gefolge waren der größte jemals registrierte Waldbrand, schwere Hitzewellen und verheerende Überschwemmungen. UN-Generalsekretär António Guterres spricht von einem „Planeten am Rande des Abgrunds“.
Klimaleugner könnten viele Stimmen erhalten
Vor diesem Hintergrund würde man erwarten, dass bei der EU-Wahl am 9. Juni der europäische Green Deal, der Europa klimaneutral machen soll, im Zentrum der Wahl steht. Doch das Gegenteil ist der Fall: Die politische Agenda hat sich weg von Klima- und Umweltthemen, hin zu Sicherheits-, Migrations- und Wirtschaftsfragen verlagert. Dabei ist der Klimawandel die größte Sicherheitsbedrohung unserer Zeit. Dennoch könnte die AfD bei der EU-Wahl nach der CDU die meisten deutschen Stimmen erhalten. Eine Partei, die den Green Deal ablehnt und stattdessen in ihrem Wahlprogramm von „Klimawahn“, „Klima-Hysterie“ und „Klimalobbyisten“ spricht.
Planetare Grenzen: Green Deal soll(te) Transformation vorantreiben
Was das mit Tierschutz zu tun hat? Leider sehr viel, denn der Green Deal ist verknüpft mit der Reform der EU-Tierschutzgesetzgebung, einem verbindlichen Klimaziel für den Landwirtschaftssektor und der Schaffung eines Rechtsrahmens für nachhaltige Ernährungssysteme. Die noch amtierende Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) sprach im Dezember 2019 von einem „Mann-auf-dem-Mond-Moment“, als sie den Green Deal vorstellte. Mit einer Fülle von Maßnahmen in allen Politikfeldern sollte es gelingen, die EU bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. Der Green Deal sollte die Mammutaufgabe lösen, die Art, wie wir produzieren und konsumieren, mit unserem Planeten vereinbar machen.
Rolle rückwärts bei EU-Tierschutzgesetzen
Doch 2024 ist dieser revolutionäre Geist verschwunden. Die Pandemie, die Kriege und multiplen Krisen haben die Welt verändert. Und die Politik reagiert. Wie, wird besonders deutlich beim Rückzieher der EU-Kommission bei der Überarbeitung der EU-Tierschutzgesetzgebung. Im Rahmen der im Green Deal enthaltenen Farm-to-Fork-Strategie sollten neben Maßnahmen für Klimaschutz und Artenvielfalt auch das Ernährungssystem und die Landwirtschaft nachhaltiger und ökologischer werden. Teil davon war die Überarbeitung der veralteten Tierschutznormen. Die Kommission versprach, bis Ende 2023 Novellierungsvorschläge für Tierhaltung, Tiertransporte sowie für Schlachtung und die Kennzeichnung von Lebensmitteln vorzulegen. Rückenwind kam von über 1,4 Millionen EU-Bürger:innen, die mit der Europäischen Bürgerinitiative „End The Cage Age“ ein Ende der tierquälerischen Käfighaltung in Europa forderten.
Erwartungen bitter enttäuscht
Im Sommer 2021 stimmte das EU-Parlament mit überwältigender Mehrheit für ein Verbot der Käfighaltung bis 2027 für Sauen, Kälber, Kaninchen und Geflügel. Angekündigt wurde auch der Ausstieg aus der tierquälerischen Pelzproduktion. Tierschutzorganisationen aus ganz Europa feierten das Versprechen der EU-Kommission als historischen Erfolg für die Tiere. Denn „End the Cage Age“ war die erste europäische Bürgerinitiative (ECI), der es gelang, eine Verpflichtung zu erwirken. Doch die Erwartungen wurden enttäuscht. In ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union erwähnte von der Leyen den Tierschutz mit keinem Wort. Anfang Oktober 2023 bestätigte Maroš Šefčovič, Vizepräsident der Europäischen Kommission, die düsteren Vorahnungen: Die EU-Kommission hatte alle Gesetzesreformen zum Tierschutz bis auf eine Ausnahme aus dem Arbeitsprogramm für 2024 gestrichen.
Tierindustrie blockiert Verbesserungen
Was war geschehen? Nach einer Untersuchung war der Widerstand der mächtigen Agrarlobby dafür verantwortlich. Anja Hazekamp, die stellvertretende Vorsitzende des EU-Umweltausschusses, sagte, dass die Industrie hart und schmutzig gekämpft habe. Obwohl sie wüsste, dass wir dringend bessere Tierschutzstandards bräuchten, habe sie alles getan, um sie zu verhindern.
Green Deal wird aufgeweicht
Der Einfluss der mächtigen Agrarlobby wird auch deutlich an den Reaktionen der EU-Kommission auf die Bauernproteste: Im Eilverfahren beschloss sie Mitte Mai 2024 selbst gesetzte ökologische Standards, wie Brachen, Fruchtfolgen und Bodenbedeckung, aufzuweichen und behördlichen Kontrollen für kleinere Betriebe auszusetzen. Betriebe mit bis zu 10 Hektar Fläche sollen künftig von vielen Kontrollen und Sanktionen ausgenommen werden. Es ist zu befürchten, dass sich dies negativ auf den Tierschutz auswirkt.
Nötig wären häufigere Kontrollen
In Deutschland betrifft dies ein Viertel aller Höfe und 13 Prozent der dort gehaltenen Tiere. Dabei wären häufigere (und risikobasierte) Kontrollen nötig, um dem massiven Vollzugsdefizit bei Tierschutzvergehen in Deutschland zu begegnen. Laut einer Anfrage von Grünen und FDP in 2018 werden Tierhaltungsbetriebe in Deutschland durchschnittlich ohnehin nur alle 17 Jahre kontrolliert. Die seltenen Kontrollen führen dazu, dass Verstöße gegen geltende Tierschutzgesetze oft gar nicht entdeckt werden. Es ist zu befürchten, dass die Missstände in den Tierhaltungen durch die jetzt beschlossenen Lockerungen noch zunehmen werden.
EU-Bürger:innen wollen mehr Tierschutz
Wie groß die Ignoranz der EU-Kommission gegenüber dem Willen der EU-Bürger:innen ist, zeigte die im Oktober veröffentlichte Eurobarometer-Umfrage: Darin sprach sich eine überwältigende Mehrheit von 84 Prozent dafür aus, sogenannte Nutztiere besser zu schützen. Neun von zehn EU-Bürgern (89 Prozent) waren der Meinung, dass Tiere nicht in Käfigen gehalten werden sollten.
Ein Weiter-so wäre fatal
Dabei wissen alle Entscheidungsträger, was eigentlich zu tun wäre: die Transformation des Agrar- und Ernährungssystems. Doch sobald die Traktoren rollen, verlässt die Politik der Mut. Denn die Maßnahmen sind unpopulär. Doch wir haben keine Wahl. Ein „Weiter-so“ wäre fatal. Der Agrarökonom Hermann Lotze-Campen warnte im April auf einer Konferenz zu Klima und Landwirtschaft in Potsdam vor den immensen gesellschaftlichen Kosten der Untätigkeit: Er schätzte die versteckten Kosten des globalen Agrar- und Ernährungssystems, konservativ gerechnet, auf mehr als 10.000 Milliarden Dollar jährlich.
Nötig: politische Leitplanken
Die wichtigsten Stellschrauben sind nach Auskunft der Wissenschaft ein Rückgang der Tierbestände, eine stärker pflanzenbasierte Ernährung und die Wiedervernässung der Moore. Um diese Transformation umzusetzen, brauchen wir klare politische Leitplanken hin zu einem tier-, klima- und naturverträglichen Landwirtschafts- und Ernährungssystem. Nötig sind zudem Anreize, die nachhaltige Strukturen fördern und schädlichen Konsum besteuern. Daran muss sich zukünftig auch die Vergabe der fast 400 Milliarden schweren EU-Agrarsubventionen ausrichten.
Ökosystemleistungen honorieren
Diese müssen den biologischen Anbau von pflanzlichen Eiweißträgern für die menschliche Ernährung fördern und die Landwirt:innen für die Erbringung von Ökosystemleistungen, wie dem Anlegen vom Biodiversitätsflächen und dem Pflegen von Biotopen, entlohnen. Zusätzlich müssen Lenkungsinstrumente wie Abgaben für schädliche Produkte wie Fleisch, Milch und Co. genutzt werden. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung empfiehlt beispielsweise ein Biodiversitätsgeld. Dieses besteuert Produktionsmethoden, die der Biodiversität schaden und subventioniert Methoden, die die Artenvielfalt fördern.
Nutzen Sie Ihre Stimme
Welche Parteien sich dieser notwendigen Aufgabe stellen, zeigt sich vor allem daran, wie diese zum Green Deal stehen. Doch der Blick auf die Wahlprognosen zeigt, dass die rechtsextreme Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID) die drittstärkste Kraft im Europaparlament werden könnte. Eine Auswertung der fünf größten Brüsseler Umwelt-NGOs ergab, dass die ID grüne Gesetze routinemäßig ablehnt. Bei dieser EU-Wahl steht viel auf dem Spiel. Deswegen nutzen Sie Ihre Stimme – für den Schutz von Tieren, Klima und Umwelt und für die Rettung der Demokratie.
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