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Reduktionsplan als Einstieg in den Ausstieg

Ein großer Schwachpunkt im aktuellen Koalitionsvertrag ist das Thema Tierversuche. Vom anvisierten Ausstieg, den Grüne und SPD in ihren Wahlprogrammen ankündigten, blieb im Koalitionsvertrag nur eine Reduktionsstrategie übrig. Der Bundes-verband wird sich davon jedoch nicht entmutigen lassen. Er wird sich dafür einsetzen, dass die angekündigte Reduktions-strategie der Einstieg in den perspektivischen Ausstieg aus dem Tierversuch wird.

Noch im Herbst letzten Jahres standen die Zeichen auf Ausstieg. Im September hatte das EU-Parlament mit einem historischen Entschließungsantrag die EU-Kommission auf-gefordert, einen EU-weiten Aktionsplan für einen Ausstieg aus dem Tierversuch aufzustellen. Fast zeitgleich stimmte in Deutschland der Wahlerfolg zweier Parteien hoffnungsvoll, die den Ausstieg in ihren Wahlprogrammen ankündigten. Doch die Enttäuschung folgte auf dem Fuße: Im Koalitionsvertrag wurde der anvisierte Ausstiegsplan zu einer Reduktionsstrategie zusammengedampft. Auch die Antwort der EU-Kommission auf den Entschließungsantrag des Parlaments fiel knapp sechs Monate später enttäuschend aus: Es bestehe keine Notwendigkeit für die Ausarbeitung eines Aktionsplans, da das endgültige Ziel, keine Tierversuche mehr durchzuführen, bereits in der Tierversuchsrichtlinie 2010/63/EU festgeschrieben stehe. Für den Bereich Aus- und Weiter-bildung wurde auf die Verantwortung der Mitgliedsstaaten verwiesen. Angeführt wurde eine Liste mit aktuellen Initiativen und Projekten, die zu einer Reduktion beitragen können. Der Fokus solle darauf liegen, diese Bemühungen weiter auszubauen.

Deutschland muss Vorreiterrolle einnehmen
Umso mehr kommt es nun darauf an, die von der neuen Bundesregierung angekündigte Reduktionsstrategie so effektiv wie möglich auszugestalten, das Ziel des letztlichen Ausstiegs fest im Blick. Dies könnte auch für die EU-Kommission ein Signal sein, doch noch eine EU-weite Koordination einzuleiten. Der Bundesverband sagte den neuen Ministerien – trotz der Enttäuschung – seine fachliche Unterstützung für die Reduktionsstrategie zu. Dazu haben wir einen ausführlichen Maßnahmenplan in Form einer Online-Broschüre ausgearbeitet und allen relevanten politischen Entscheidungsträgern übermittelt.

Christina Ledermann, Dr. Corina Gericke und Dr. Ophelia Nick bei der Unterschriftenübergabe

Fast 140.000 Unterschriften übergeben
Um der Bundesregierung die Bedeutung eines letztendlichen Ausstiegs vor Augen zu führen, übergaben der Bundesverband Menschen für Tierrechte und der Verein Ärzte gegen Tierversuche am 29. April über 138.000 Unterschriften an die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundeslandwirtschaftsministerium Dr. Ophelia Nick (Grüne). Nach der Unterschriftenübergabe hatten die Vereinsvertreterinnen eine Stunde lang die Möglichkeit, der Tierärztin Dr. Nick die Bedeutung einer Ausstiegsstrategie zu erläutern. Entscheidend sei, betonten die Vertreterinnen beider Vereine, dass die Bundesregierung endlich konkrete Ausstiegsdaten festlege, bis zu denen bestimmte Tierversuche beendet werden müssen. Dass dies funktioniere, habe das Verbot von Tierversuchen für Kosmetik gezeigt. Da damals noch tierfreie Testverfahren fehlten, führte das Verbot zu einem Boom bei der Entwicklung neuer Verfahren. 

Vorbilder USA und Niederlande
Die Vertreterinnen betonten auch die Vorbildfunktion der bereits erarbeiteten Ausstiegsstrategien der USA und der Niederlande. Die differenzierte Ausstiegsstrategie, die die Niederlande als erster EU-Mitgliedstaat 2016 vorlegten, enthielt konkrete Zielvereinbarungen und gestaffelte Ausstiegsdaten für bestimmte Bereiche. Die USA folgten 2019 mit einer Richtlinie der Umweltbehörde EPA. Diese verbietet toxikologische Versuche an Säugetieren ab 2035. Dazu werden ab 2025 die Fördergelder für Tierversuche in diesem Bereich um 30 Prozent gekürzt und ab 2035 ganz gestrichen. Die Tierrechtlerinnen forderten auch, dass Tierversuche in bestimmten Bereichen sofort verboten werden müssten. Dies seien Tierversuche für Botox, für die Antikörper-Produktion, für Haushaltsmittel sowie für schwerstbelastende Versuche. (Das sind Tests, bei denen die Tiere besonders leiden und eine Linderung nicht möglich ist). Diese Versuche seien in der EU eigentlich nicht erlaubt, die Mitgliedstaaten nutzten jedoch eine Ausnahmeregelung.  

In-vitro-Methoden sind oft genauer, schneller und kostengünstiger als der Tierversuch.

Fortschritte bei tierfreien Verfahren
Weitere Themen waren die gezielte Förderung der Entwicklung tierfreier Verfahren sowie Schwierigkeiten bei der Anerkennung durch die Regulationsbehörden. Die Biologin Dr. Christiane Hohensee, beim Bundesverband auf tierversuchsfreie Verfahren spezialisiert, informierte die Staatssekretärin über den Stand der Entwicklungen. Für die lokalen Giftigkeitsprüfungen gäbe es schon viele tierfreie Ansätze und auch bei den systemischen Prüfungen arbeite man bereits mit Multiorgan-on-a-Chip Systemen. Sowohl Pharmaindustrie als auch Regulationsbehörden zeigen großes Interesse an den neu zugelassenen tierfreien Verfahren. 

Konsequente Überwachung
Im Rahmen des Übergangskonzepts ist eine effektive Überwachung und Bewertung der Reduktion von Tierversuchen notwendig. Bislang gibt es lediglich die Veröffentlichungen der Tierversuchsstatistiken und deren Kommentierungen, die je nach politischem Lager variieren. Nötig wäre eine der Tierversuchsstatistik vergleichbare Überwachung und Bewertung der Verbreitung von tierversuchsfreien Methoden. Auf nationaler Ebene fehlt zudem eine breite Kommunikation von zentraler nationaler und/oder internationaler Stelle, beispielsweise mit den diversen 3R-Zentren, den genehmigen-den Tierversuchskommissionen und der Öffentlichkeit. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF)neu gegründete Bundesnetzwerk 3R könnte diese Funktionen übernehmen.

MRT-Beurteilung des Gehirns: Ein Großteil der seltenen
Erkrankungen betrifft das Gehirn und das Nervensystem.
Foto: iStockphoto/RoBeDeRo

Interdisziplinäre Ansätze
Unabdingbar ist zudem die multidisziplinäre Zusammenarbeit bei der Entwicklung und Zulassung von Ersatzmethoden zu Tierversuchen. Wir schließen uns der Ansicht der Industrie an, eine internationale Zusammenarbeit für einen neuen Ansatz zur Risikobewertung zu forcieren. Wünschenswert wäre zum Beispiel die Beteiligung der klinischen Forschung bei angewandten/translationalen Fragestellungen. Dazu sollte auch die verstärkte Nutzung von Humandaten gehören. Ohne digitalisierte Informationen über Erkrankungen können Wissenschaftler kaum Vorhersagemodelle am Computer entwickeln. Auch die Nutzung von Patientenproben (Biopsien, Explantate) aus Krankenhäusern für die klinische Forschung an menschlichen Geweben muss verstärkt werden. Diese könnten beispielsweise zum Abgleich (Aussagekraft des Tierversuchs) beziehungsweise zur Grundlagen- und an-gewandten Forschung herangezogen werden.

Nötig: neue Kommunikationsstrukturen
Um ein Reduktionskonzept in dieser Legislaturperiode zu etablieren, muss dazu zeitnah eine ressortübergreifende Management- und Implementierungsgruppe sowie eine strategische Kommunikationsgruppe ernannt werden, die insbesondere die Kommunikation mit den 3R-Zentren, den genehmigenden Behörden, beratenden Kommissionen sowie der Öffentlichkeit übernimmt. Besondere Relevanz hat die Kommunikation, um Dopplungen von Tierversuchen zu vermeiden. Für Ergebnisse, die mit Tierversuchen gewonnen wurden, ist zudem eine Datenbank nötig, deren Nutzung für alle Beteiligten verpflichtend ist. Nur so kann verhindert werden, dass der gleiche Versuch mehrfach durchgeführt wird. Bislang ist der Eintrag in der Datenbank „Animalstudyregister“ des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR) freiwillig, ebenso wie die Nutzung. Die genehmigenden Behörden haben keinen Zugang. Das muss sich ändern.

Tierfreie Methoden nach Dringlichkeit
Besonders wichtig ist die Gründung einer Arbeitsgruppe zur Bedarfsidentifizierung, bestehend aus Experten aus Wissenschaft und Industrie. Ihre Aufgabe ist es, eine Agenda für notwendige neue NAMs (non-animal methods, tierleidfreie Verfahren) nach Dringlichkeit zu entwickeln. In dieser sollen beispielsweise die Forschungsbereiche ermittelt werden, die besonders viele Tiere einsetzen. Ein anderes Auswahlkriterium ist, in welchem Bereich schwerbelastende Tierversuche durchgeführt werden oder Bereiche, für die Tierversuche bislang keine wirksamen Behandlungen hervor-gebracht haben.

Strukturierte Priorisierung
Für Giftigkeitsprüfungen können am besten konkrete NAMs und Teststrategien entwickelt werden, da hier konkrete Endpunkte geprüft werden. Es existieren schon sehr viele funktionierende Konzepte, die allerdings koordiniert entwickelt werden müssen. Auch hier lohnt es sich, thema-tisch vorzugehen. Für die Sicherheitsprüfung gelten alle-dings europäische Regelwerke. Die Bundesregierung sollte sich deswegen dafür einsetzen, dass auch der EU-Etat für die (Weiter-)Entwicklung dieser NAMs aufgestockt wird.

Validierung beschleunigen
Auch die Anerkennung neuer Verfahren ist ein staaten-übergreifendes Thema und muss als solches behandelt werden. In dieser Legislatur kann die Politik eine Allianz auf europäischer Ebene bilden und gemeinsam darauf hinwirken, die Effektivität des Validierungsprozesses auf den Prüfstand zu stellen. Die Regierung sollte sich auch für den Ausbau des Etats der europäischen Validierungsbehörde ECVAM einsetzen.

Langzeitprojekt Grundlagenforschung
Für die angewandte beziehungsweise translationale Forschung sollten 10-Jahres-Pläne aufgestellt werden. Mit Krankheitsmodellen, beispielsweise in mikrofluidischen Systemen, könnten Tierversuche zumindest reduziert werden. Die komplexen Abläufe und Wechselwirkungen in einem Gesamtorganismus können derzeit nicht komplett simuliert wer-den. Die Vorversuche sollten allerdings verpflichtend in der Zellkultur stattfinden, denn der Tierversuch darf gemäß der Tierversuchsrichtlinie nur die letzte Option sein. Die Ergebnisse sollten den Entwickler:innen von NAMs zur Verfügung stehen.

Anatomiemodell für Tiermediziner und Biologen Foto: iStock/andresr

Tierfreies Studieren ermöglichen
Die Verwendung von Tieren in der Aus- und Weiterbildung kann in den meisten Fällen durch tierfreie Methoden ersetzt werden. Bislang setzen viele Hochschulen noch immer Tiere ein, da humane Lehrmethoden teilweise nicht bekannt sind, der Aufwand zur Umstellung gescheut wird und der Druck zur Veränderung fehlt. Dies sind keine akzeptablen Gründe. Eine Sofortmaßnahme der Bundesregierung könnte daher der Start einer allgemeinen Informationskampagne zum Thema „Tierfreies Studieren“ sein. Zeitgleich sollten Tierversuche und der Einsatz tierfreier Methoden an Hochschulen einer Dokumentationspflicht unterzogen und diese Berichte zentral zugänglich gemacht werden. Dies kann einen belegbaren Überblick über Tierversuche, Lern-ziele und Erfolge und damit eine Grundlage für das weitere Vorgehen schaffen.

Finanzierung aufstocken
Generell muss das Budget für NAMs drastisch aufgestockt werden. Die Verteilung der Gelder verläuft derzeit höchst unfokussiert. Eine Möglichkeit wäre es, die Ausschreibung von Forschungsförderungen mit den konkreten Bedarfen der noch fehlenden tierfreien Methoden zu verknüpfen. Dazu ist ein spezieller Etat für Machbarkeits- und Prävalidierungsstudien nötig. Der vorhandene Etat reicht bei Weitem nicht aus. Unabdingbar ist auch die massive Aufstockung des Personals und der Ressourcen der Prüfbehörden, damit die vorgeschriebene Prüfung von Tierversuchsanträgen und die Kontrolle der Einrichtungen gewährleistet werden können.

Die Tür zum Ausstieg aufstoßen
Der Bundesverband wird nicht lockerlassen und sich weiter dafür einsetzen, dass die angekündigte Reduktionsstrategie der Einstieg in den perspektivischen Ausstieg aus dem Tierversuch wird.