Allgemein Industrielle Tierhaltung Interviews Politik

Interview: „Alle Grausamkeiten haben eine gemeinsame Wurzel!“

Prof. Dr. Franz Mühlbauer lehrte die Fachgebiete Agrar- und Lebensmittelmärkte und Marketing an der Hochschule Weihenstephan-Triesdorf. Im Interview nimmt erklärt er, warum höhere Fleischpreise kein wirksames Mittel gegen die Grausamkeiten in der industriellen Tierhaltung sind, was er von dem sogenannten Tierwohllabel hält und was passieren würde, wenn sich ein Großteil der Bevölkerung vegetarisch ernähren würde. Wirkliche Verbesserungen kann es – seiner Meinung nach – nur über eine radikale Wende hin zu einer gemeinwohlorientierten Wirtschaftsordnung geben.

Herr Prof. Mühlbauer, am 3. Juli 2020 hat der Bundesrat einer Änderung der sogenannten »Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung« zugestimmt. Danach soll die Kastenhaltung von Sauen im Deckbereich von einer Gruppenhaltung abgelöst werden, allerdings erst nach einer Übergangsfrist von bis zu zehn Jahren. Im sogenannten Abferkelbereich sind keinerlei Haltungsverbesserungen vorgesehen. Die Bewertungen dieser höchst umstrittenen Entscheidung reichen von einem „Erfolg für die Tiere“ bis zu einem Kniefall vor der Agrarindustrie. Wie bewerten Sie dieses Ergebnis?

Die Entscheidung des Bundesrats zeigt wieder einmal, wie stark die Lobby der industriellen Tierhaltung Einfluss auf die Politik nimmt. Die sog. Bauernverbände vertreten zu aller Letzt die bäuerliche Landwirtschaft; ihre primären Klientelgruppen setzen sich aus den gewerblichen Tierhaltern und den ihnen vor- und nachgelagerten Industrien zusammen. Dies sind der Züchtungs-, Futtermittel- und Stalleinrichtungssektor in der Vorstufe und die Schlachtindustrie im nachgelagerten Bereich. Führende Bauernverbandsvertreter haben Aufsichtsratsposten in diesen und weiteren vor- und nachgelagerten Wirtschaftssektoren. Deshalb verwunderte es nicht, dass sich eine Agraropposition formiert hat, die Arbeitsgemeinschaft Bäuerliche Landwirtschaft, mit der ich zusammenarbeite. Summa summarum: Das Tierwohl spielt auch jetzt und künftig bei der Agrarlobby und der industriellen Tierhaltung keine Rolle.

Berlin hat Normenkontrollklage beim Bundesverfassungsgericht eingereicht, um die Schweinehaltung grundsätzlich auf den Prüfstand zu stellen. Halten Sie das für den richtigen Weg?

Die Klage der Berliner Landesregierung zeigt, dass wenigstens in Teilen der Politik eingesehen wurde, dass bei der tierquälerischen industriellen Schweinehaltung Handlungsbedarf besteht. Das Vorhaben ist ein Schritt in die richtige Richtung. Aber auch wenn die Klage Erfolg haben sollte, werden die Lobbyisten der Tierhaltung in Großbeständen, im Verbund mit den ihnen hörigen Politikern, alles tun, um grundlegende Verbesserungen zu verhindern oder zumindest hinauszuzögern.

Der Bundestag hat Anfang Juli 2020 auch für die Umsetzung der Borchert-Empfehlungen zum Umbau der Tierhaltung gestimmt. Was halten Sie von dem Konzept des „Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung?

Aus Platzgründen gehe ich nur auf diejenigen Vorschläge der Borchert-Kommission ein, die die Tierschutzthematik bei Nutztieren direkt betreffen. Da wäre zunächst die dreistufige freiwillige Kennzeichnung für die wichtigsten Bereiche der Nutztierhaltung. Die Freiwilligkeit bedingt bereits als solche, dass diese Kennzeichnung von der Praxis nicht umgesetzt wird. Die Tierhalter ändern freiwillig nur dann die Haltungsbedingungen der Tiere, wenn die Änderung entweder eine Kosteneinsparung – mit der Folge noch schlechterer Haltungsbedingungen – oder eine Gewinnsteigerung mit sich bringt. Beides trifft nicht zu.

Auch eine Verbrauchssteuer wird an den tierwidrigen Haltungsbedingungen nichts ändern. 40 Cent pro kg Fleisch bedeutet, dass eine normale Fleischportion von 200 g gerade mal um 8 Cent teurer würde. Das wird die Verbrauchergruppe von 70 bis 80 Prozent der Verbraucherschaft, die gierig auf billiges Fleisch ist, sicher nicht zu einer Reduzierung ihres Fleischverzehrs veranlassen.

Eine echte Verbesserung des Tierwohls bei Nutztieren lässt sich nur durch strenge staatliche Vorgaben, die direkt an den Haltungsbedingungen ansetzen, erreichen. Diese neuen gesetzlichen Vorgaben lassen aber viel besser in einer alternativen Wirtschaftsordnung realisieren.

Die Masseninfektionen in Schlachthöfen hat das menschenverachtende System von Billiglohn und Sammelunterkünften in der Fleischindustrie deutlich zutage befördert. Plötzlich dringt sogar Bundesagrarministerin Julia Klöckner (CDU) auf grundlegende Veränderungen im Fleischmarkt und verkündet, dass es keine zweite Chance für die gesamte Branche geben wird. Glauben Sie, dass die Politik jetzt tatsächlich etwas an diesen Strukturen ändern wird? Welche Maßnahmen wären notwendig?

Julia Klöckner wie auch ihre Vorgänger, z. B. Horst Seehofer, haben nach jedem Fleischskandal Maßnahmen angekündigt, denen allerdings keine oder nur aktionistische und damit unwirksame Taten gefolgt sind. Frau Klöckner hält es eher mit der Lebensmittelindustrie, wie das Nestle-Interview gezeigt hat, und somit wohl auch eher mit der Schlachtindustrie, die ja auch zur Nahrungsgüterindustrie zählt. Von dieser Ministerin kann ich leider keine Verbesserungen für das Tierwohl erwarten. Die genannten Missstände in der Schlachtindustrie fallen in den Zuständigkeitsbereich des Arbeitsministers, der zwar aufräumen will, aber – wie das Beispiel Tönnies zeigt – nicht vorankommt.

Die Corona-Krise hat noch etwas bewirkt: Sie hat ein Schlaglicht auf die Massentierhaltung als idealen Nährboden für krankmachende Keime geworfen. Anfang Juli 2020 warnten chinesische Wissenschaftler bereits vor einem neuen Influenza-Stamm der Schweinegrippe mit Pandemie-Potential. Wird es uns gelingen, aus der Krise zu lernen und sie als Chance zu nutzen?

Wenn die Tierhalter und Politiker ernsthaft aus der Krise lernen wollen, müssen sie unbedingt die Massenställe abschaffen und die Tierhaltung in Kleinbestände umstrukturieren. Dort würde der Landwirt sofort wahrnehmen, ob z.B. ein Schwein an der neuen Schweinegrippe erkrankt wäre und man könnte sofort diesen Bestand isolieren. Es wären dann nicht gleich Tausende bis Zigtausende von Tieren betroffen. Aber eine derartige radikale Umstellung bedarf unbedingt einer neuen gesetzlichen Grundlage in einem alternativen gemeinwohlorientierten Wirtschaftssystem.

Der Professor für Wirtschaftsstrafrecht Jens Bülte hat die Strafverfolgung bei Tierschutzfällen in den vergangenen 40 Jahren ausgewertet. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Tierquälerei in großem Stil nicht angemessen oder gar nicht bestraft wird und spricht von der „faktischen Straflosigkeit institutionalisierter Agrarkriminalität“. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?

Die Ergebnisse der Auswertung des Kollegen Bülte kann ich nur bestätigen. Ein Grund besteht in der viel zu geringen Kontrolldichte; Tierhaltungsbetriebe werden oft jahrzehntelang nicht kontrolliert. Weiterhin bestehen gerade in ländlichen Gebieten oft direkte persönliche Beziehungen zwischen Tierhaltern und den Personen, die für die Kontrollen zuständig sind. Letztere verschließen wegen dieser Kumpanei oft die Augen vor den Missständen.

Der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik veröffentlichte bereits 2015 das Gutachten „Wege zu einer gesellschaftlich akzeptierten Nutztierhaltung“. Die Experten stellen darin fest, dass die derzeitig praktizierte industrielle Tierhaltung keine Zukunft hat. Warum wird dieses Gutachten nicht endlich umgesetzt?

Die Politiker der derzeit regierenden Parteien werden durch die Bank von den Großkonzernen im Agrar- und Lebensmittelbereich gesteuert. Die Tatsache, dass diese Parteien Groß- und Kleinspenden nach wie vor gerne annehmen, beweist, dass sie sich wie eh und je von der Wirtschaft korrumpieren lassen. Wissenschaftliche Beiräte und deren Empfehlungen haben und hatten vor diesem Background keine Chance auf Umsetzung ihrer Empfehlungen.

Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag angekündigt, das Kükentöten im Laufe des Jahres 2020 zu verbieten. Bisher hatte Ministerin Klöckner und ihre Vorgänger nur auf freiwillige Vereinbarungen mit der Geflügelwirtschaft gesetzt. Nun hat sie angekündigt, das Töten männlicher Küken jetzt (endlich) gesetzlich zu verbieten. Dazu zwingt sie auch das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes vom 13. Juni 2019. Gibt es Hoffnung, dass die skandalöse Praxis jetzt endlich beendet wird?

Ich wäre sofort ein Fan von Frau Klöckner, wenn Sie es schaffen würde, dem Küken-Schreddern und -Vergasen per Gesetz ein Ende zu bereiten. Ob sie dem scharfen Gegenwind der Geflügel-Wirtschaftsverbände, der ihr schon jetzt um die Nase weht, Stand halten kann? Ich hoffe und wünsche es natürlich. Dann könnte die Ministerin zum ersten Mal unter Beweis stellen, dass sie mehr ist als ein willfähriges Instrument der Agrarlobbyisten.

Die industrielle Tierhaltung befeuert den Klimawandel. Die Bundesregierung hat bisher jedoch keine Maßnahmen genannt, um die Landwirtschaft beim Klimaschutz in die Pflicht zu nehmen. Was muss passieren, um dies grundlegend zu ändern?

Die Bundesregierung, insbesondere die Agrarministerin, müsste ihre lobbyhörige Haltung aufgeben und der Landwirtschaft strengere Umweltauflagen machen. Aber auch jetzt zeigt sich, wenn die Landwirte gegen die von der Sache her durchaus angebrachte strengere Düngeverordnung protestieren, wie schnell die Ministerin einknickt. Wenn sie vor konventionell wirtschaftenden Landwirten spricht, erzählt sie diesen, was sie gerne hören. Hat sie Ökobauern vor sich, erzählt sie genau das Gegenteil. Was dringend notwendig wäre, die einheitlichen EU-Flächenprämien abzuschaffen und nur denjenigen Landwirten eine Prämie zuzugestehen, die echte Umweltleistungen auch im Klimaschutz erbringen. Die jetzige Bundesregierung denkt jedoch nicht im Traum daran, sich bei der EU für eine solche Änderung des Beihilferechts einzusetzen.

Wozu würden Sie einem Landwirt raten, der überlegt, seine bisherige intensive Tierhaltung umzustellen?

Ich würde ihm raten, auf eine ökologische Wirtschaftsweise umzustellen, und zwar nach den Richtlinien eines deutschen Ökoverbands, z.B. des Demeterbunds. Die Umstellung entsprechend der EU-Ökorichtlinie führt zu keinem echten Ökolandbau, weile diese ausgesprochen lasch sind; die Umstellung ist nur „ein bisschen öko“.

Tierrechtsverbände wie „Menschen für Tierrechte“ fordern einen Paradigmenwechsel von der tierischen zur pflanzlichen Eiweißproduktion. Langfristig sollen pflanzliche Eiweißträger wie Konsumleguminosen, also Insekten oder Algen, unseren Bedarf an Eiweiß decken. Wie schätzen Sie die Chancen dafür ein?

Meines Erachtens wäre es gar nicht notwendig, den Tisch mit Algen- und Insektengerichten zu decken. Wenn ein Großteil der Bevölkerung zu einer vegetarischen Ernährung fände, würden im großen Maß Futterflächen frei. Tierhaltungszweige, die ausschließlich der Fleischproduktion dienen, also Schweine, Mastgeflügel sowie Schlachtbullen und -färsen, würden stark an Bedeutung verlieren. Diese so freigewordenen Flächen stünden dann für die Erzeugung von pflanzlichen Lebensmitteln, beispielsweise Freilandgemüse zur Verfügung. Und der Gesundheit der Verbraucher käme die Umstellung auf vegetarische Ernährung ohnehin zugute.

Könnten Sie konkretisieren, was Sie sich unter „einer alternativen Wirtschaftsordnung“ vorstellen?

Mein Ansatz bezieht alle Missstände der industriellen Tierhaltung mit ein: Ich rufe alle Tierschutzverbände und Tierrechtsparteien auf, nicht nur ihre unmittelbaren Ziele des Tierschutzes in den Mittelpunkt ihrer Aktionen zu stellen, sondern – und das ist entscheidend – gleichrangig die Forderung nach einer neuen gemeinwohlorientierten Wirtschaftsordnung. Denn alle Grausamkeiten in der industriellen Tierhaltung haben eine gemeinsame Wurzel, nämlich die Profitgier der Großunternehmen, nicht nur in der Tierhaltung, sondern auch in der Schlachtstufe bis hin zum Fleischhandel. Dieser Profitsucht wird alles in Wirtschaft und Gesellschaft untergeordnet. Und dieses Grundübel gilt es an der Wurzel zu packen. Noch so viele Demonstrationen und Aktionen der Tierschutzverbände ändern nichts oder nur wenig an den tierquälerischen Verhältnissen, solange den raffgierigen Bossen und willfährigen Politikern mit der Forderung nach der neuen gemeinwohlorientierten Wirtschaftsordnung nicht Dampf unter dem Hintern gemacht wird.

Das ist ein hehres Ziel und bedeutet letztlich eine Abkehr vom marktwirtschaftlich-kapitalistischen System. Doch wie kann eine gemeinwohlorientierte Wirtschaftsordnung erreicht werden?

Für die Etablierung einer neuen gemeinwohlorientierten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung reicht es sicher nicht, wenn nur die Tierschutzorganisationen diese neue Ordnung auf ihre Fahnen schreiben. Deshalb rufe ich hier und jetzt alle gesellschaftskritischen Organisationen wie Fridays für Future, Greenpeace, Foodwatch und sonstigen NGO´s (Nichtregierungsorganisationen) auf, analog zu den Tierrechtsvereinigungen die neue Wirtschaftsordnung zusätzlich zu ihren unmittelbaren Zielen in ihre Aktivitäten mit einzubeziehen. Denn nicht nur die Missstände in der Versuchs- und Nutztierhaltung, sondern auch die übrigen Megaprobleme in unserer Gesellschaft wie Klima- und Umweltschutz, bezahlbarerer Wohnraum und einige andere mehr gehen auf die Profitsucht de Konzerne und des nicht weniger gierigen Finanzmarktkapitalismus zurück. Auch gesellschaftskritische Privatpersonen, also wir alle, sind gefordert, in unserem Freundes- und Bekanntenkreis mittels aktiver Überzeugungsarbeit für die neue Ordnung zu kämpfen.
Wie einst Martin Luther King, so habe auch ich einen Traum: Alle gesellschaftskritischen Gruppen und Privatpersonen finden sich in ihrem Kampf für die Ablösung der derzeitigen Pseudo-Marktwirtschaft zusammen, leisten wie Gandhi gewaltlosen Wiederstand, um eine friedliche Wirtschaftsrevolution zu einem guten Ende zu führen, zum Wohle alle in unserem Land.

Das Interview führte Christina Ledermann