Agrar- und Ernährungswende Zelluläre Landwirtschaft

Zelluläre Landwirtschaft: Chance oder Irrweg?

Der Druck ist groß, um Lösungen für die dramatischen Auswirkungen der intensiven Tierhaltung zu finden. Expert:innen gehen davon aus, dass die zelluläre Landwirtschaft und künstlich gezüchtete tierische Produkte in einigen Jahren auch in Deutschland Realität sein könnten. Zwar sind noch viele Probleme im Produktionsprozess und im Umgang mit den Tieren ungelöst. Die zelluläre Landwirtschaft könnte dennoch Teil der Lösung sein. 

Die Entwicklung von aus Zellen kultiviertem Fleisch, dem sogenannten Laborfleisch, schreitet voran: Im Juni 2023 genehmigten die US-Behörden den Verkauf von zellkultiviertem Hühnerfleisch in Restaurants. In Singapur ist bereits seit zwei Jahren ein sogenanntes Hybridprodukt mit zellkultiviertem Tierfett auf dem Markt. Den ersten Zulassungsantrag für zellkultiviertes Fleisch in Europa beantragte das Aleph Farms im Juli 2023. Das Unternehmen will zellkultivierte Rindersteaks in der Schweiz verkaufen. Im folgte das Unternehmen The Cultivated B aus Heidelberg. Es gab im September 2023 bekannt, dass es den Vorab-Einreichungsprozess für die EU-Zertifizierung für eine zellkultivierte Wurst eingeleitet hat. Die Zertifizierung ist notwendig, um zellkultivierte Produkte in Europa produzieren und verkaufen zu können.

Bundesregierung sieht Potenzial
Auch die Bundesregierung sieht die Potenziale der zellulären Landwirtschaft. In ihrem Koalitionsvertrag kündigt sie an, sich für die Zulassung von Innovationen wie alternative Proteinquellen und Fleischersatzprodukte in der EU einzusetzen. Anfang März 2023 veröffentlichte das Büro für Technikfolgen-Abschätzung (TAB) beim Deutschen Bundestag den Bericht „Potenziale und Herausforderungen einer zellkulturbasierten Fleischproduktion [1]. Das TAB bescheinigt der zellulären Landwirtschaft darin das Potenzial, neben Klima und Umwelt auch unsere Gesundheit zu schützen. Handlungsbedarf sieht das TAB im Bereich der öffentlichen Investitionen.  

Strategie für Proteine der Zukunft
Renate Künast (Grüne), Sprecherin für das Thema Ernährung und Landwirtschaft, forderte daraufhin eine Strategie für Proteine der Zukunft sowie mehr Diskussion um pflanzliche Proteine, Präzisionsfermentation und kultiviertes Fleisch. Die grüne Abgeordnete Zoe Mayer bezeichnete kultiviertes Fleisch als Transformationshebel für Umwelt, Klima, Gesundheit, globale Ernährung und Tierschutz. Trotz dieser positiven Stimmen ist Singapur hier schon viel weiter: Hier wird kultiviertes Hühnchenfleisch des US-Herstellers Eat Just schon seit 2020 verkauft. Kurz danach eröffnete das erste Kulturfleisch-Restaurant in Israel. Auch der Golfstaat Qatar könnte bald grünes Licht geben. Doch bisher kann das Laborfleisch preislich nicht mit konventionellem Fleisch mithalten. Eine Portion kultivierte Hühnchen-Nuggets kostet in Singapur derzeit noch 17 Dollar.

Sinke, P., Swartz, E., Sanctorum, H. et al. Ex-ante life cycle assessment of commercial-scale cultivated meat production in 2030. Int J Life Cycle Assess 28, 234–254 (2023). Mit freundlicher Genehmigung von Pelle Sinke, CE Delft. Illustration: alexa Binnewies

Ungewiss: Vorteile für die Umwelt
Ob die Herstellung von Laborfleisch tatsächlich umweltfreundlicher ist als die herkömmliche Fleischproduktion, kann noch nicht eindeutig belegt werden. Sie könnte Vorteile haben, benötigt für den Betrieb der Bioreaktoren jedoch viel Energie. Daher wird es wesentlich sein, ob bei der Produktion erneuerbare Energien eingesetzt werden. Da es noch keine etablierten großtechnischen Produktionsanlagen gibt, kann man sich nur auf Modellrechnungen stützen. Eine Studie macht folgende Vorhersagen für 2030 [3]: Mit erneuerbaren Energien erzeugtes Rindfleisch emittiert 92 Prozent weniger Treibhausgase als konventionelles Rindfleisch, mit Kohle und Gas immer noch 55 Prozent weniger. Bei Schweinefleisch entstehen mit erneuerbaren Energien bis zu 45 Prozent weniger Emissionen, mit konventioneller Energie wäre das Laborfleisch hingegen gegenüber konventionell erzeugtem Fleisch im Nachteil. Bezüglich des Flächenverbrauchs liegt industriell kultiviertes Fleisch klar vorne: Es verbraucht bis zu 90 Prozent weniger Fläche als herkömmlich erzeugtes Fleisch.  

Laborfleisch noch nicht wirtschaftlich
Neben dem hohen Energieaufwand gibt es noch andere Kostentreiber: Bis zu 90 Prozent der Kosten machen bisher die Proteinbestandteile im Nährmedium aus. Einer Studie [4] zufolge ist kultiviertes Fleisch derzeit noch rund 100 bis 10.000-mal teurer als konventionelles Fleisch. Es könnte, im optimistischsten Szenario, bis 2030 einen wettbewerbsfähigen Preis erreicht haben. Dann könnte es zehn Prozent des weltweiten Marktes für Fleisch und Fleischersatz ausmachen. 

Große Fabriken oder dezentrale Produktion?
Zukunftsmusik ist auch noch die effiziente Massenproduktion. Aktuell liegt die Produktionsmenge noch bei ein paar Kilogramm kultiviertem Hackfleisch pro Tag und Anlage. Doch dies könnte sich bald ändern. In Singapur und Qatar entstehen momentan große Fabriken für kultiviertes Hühnchenfleisch. Andere Firmen setzen stattdessen auf kleinere Einheiten. Ein Ansatz ist, dass Supermärkte ihre eigene kleine Fleischfabrik haben könnten. Ein anderer will Landwirt:innen den Einstieg in die Produktion von kultiviertem Fleisch ermöglichen. Das Startup Neat startet derzeit mit fünf Pilotbetrieben in Schleswig-Holstein. Sie sollen Fleischmasse aus Stammzellen aus Nabelschnurblut erzeugen. Eine Nabelschnur soll die Menge kultiviertes Fleisch von sieben Schweinen liefern. Die niederländische Stiftung Respectfarms erhielt kürzlich die Genehmigung für Machbarkeitsstudien zur dezentralen Produktion von kultiviertem Fleisch auf Bauernhöfen (siehe Interview auf tierrechte.de). 

Problem strukturiertes Fleisch
Eine besondere technische Herausforderung ist die Produktion von strukturiertem Fleisch. Deswegen setzen die meisten Firmen auf Hybridprodukte, bei denen eine pflanzliche Basis mit kultiviertem tierischem Fett angereichert wird. Um Geschmack und Textur von Steaks oder Filets zu imitieren, müssen die Zellen entlang eines dreidimensionalen essbaren Gerüsts wachsen. Die israelischen Startups MeaTech und Aleph Farms geben an, bereits dünne Steaks mittels 3D-Druck herstellen zu können. Mit der Fibrationstechnologie des Schweizer Startups Mirai Foods soll es sogar möglich sein, beliebig dicke Steaks herzustellen, indem lange Muskelfasern gezüchtet und mit Fettgewebe ergänzt werden. Auch kultivierter Fisch soll bald auf den Markt kommen. Die Lübecker Firma Bluu Seafood will als erstes europäisches Startup bald Fischbällchen und Fischstäbchen anbieten. Auch Fischfilet soll in Zukunft möglich sein. 

Forschungsinitiativen in Deutschland
Damit Deutschland technologisch nicht abgehängt wird, wurde 2022 eine Professur für „Cellular Agriculture“ an der TU München eingerichtet. Schwerpunktthema ist kultiviertes Fleisch, speziell die Entwicklung effizienter Verfahren, die Produktion von Proteinen, Mikroträgern, Perfusionssystemen und ein KI-basierter Ansatz für Gefäßgeometrien. Das Wissenschafts- und Technologieunternehmen Merck hat zudem mit der TU Darmstadt und der Tufts University (USA) eine mehrjährige Forschungskooperation vereinbart. Merck will die aufstrebende Branche im Bereich Gerüstmaterialien, Bioreaktoren für die Großproduktion und tierfreie Formulierungen voranbringen. Die TU entwickelt Siebdruckverfahren für bessere Produktionsgeschwindigkeiten. Auch die Kooperation des israelischen Startups Aleph Farms mit der Wacker Chemie AG aus München will kultiviertes Fleisch massentauglich machen. Durch das neue Wachstumsmedium von Wacker könnten die Preise für wachstumsfördernde Proteine um das Tausendfache sinken. Der vom Bund mit rund 1,2 Mio. Euro geförderte Wissenschaftsverbund „Cellzero Meat“ unter Federführung des Forschungsinstitutes für Nutztierbiologie in Dummerstorf sucht nach Alternativen für die drei Hauptprobleme von Kulturfleisch: den Einsatz von fetalem Kälberserum (FKS) und Antibiotika in den Nährmedien sowie die Nutzung gentechnischer Verfahren.  

Deutschland hinkt hinterher
Doch trotz dieser Forschungsinitiativen hinkt Deutschland im internationalen Vergleich bei der unabhängigen Forschung und mit gerade mal einer Handvoll erfolgreicher deutscher Start-ups hoffnungslos hinterher. In den USA wird intensiv an neuen Entwicklungen geforscht: Die Kulturfleischproduktion wurde 2021 mit 1,4 Mrd. US-Dollar von Investoren gefördert – darunter so prominente Namen wie der US-Schauspieler Leonardo DiCaprio. Mit von der Partie sind auch Tech-Giganten wie der Google-Gründer Sergey Brin. Er hält Anteile von Mosa Meat, während Microsoft-Gründer Bill Gates in Firmen wie Beyond Meat, Hampton Creek und Impossible Foods investiert. Auch der weltgrößte Lebensmittelkonzern Nestlé ist eine Partnerschaft mit dem israelischem Start-up Future Meat Technologies eingegangen. Ebenso die US-Giganten Cargill und Tyson Foods sowie der weltweit größte Hühnerfleisch-Exporteur aus Brasilien BRF. In Deutschland investiert PHW, der Fleischkonzern hinter der Marke Wiesenhof, in das israelische Startup Supermeat. 

Zukunftsszenarien: Tierhaltung wird verdrängt
Ob der Ausschlag in Zukunft eher in Richtung kultiviertes oder pflanzenbasiertes Fleisch geht, ist noch unklar. Die Gesellschaft für Energie und Klimaschutz Schleswig-Holstein (EKSH) hat 2022 zwei Zukunftsszenarien zum Thema „Landwirtschaften 2042“ entworfen. Szenario 1 geht davon aus, dass tierische Produkte zukünftig günstiger in Bioreaktoren hergestellt werden, was die herkömmliche Tierhaltung sukzessiv verdrängt. Szenario 2 geht davon aus, dass die Förderstrukturen komplett im Sinne des Klimaschutzes umstrukturiert werden. Durch staatliche Lenkungsmaßnahmen steigt danach die Nachfrage nach pflanzlichen Proteinen. Fest steht, dass in beiden Szenarien die konventionelle Tierhaltung keine Zukunft hat. Dieser Trend wird bestärkt durch die neuen Möglichkeiten bei der Produktion von Milch- und Eiern. 

Milch und Käse ohne Kuh 

Neben Fleisch- und Fisch ist auch die Herstellung von Kuhmilch und entsprechenden Milchprodukten im Labor möglich. Milch besteht zum großen Teil aus Wasser, mit einem geringen Anteil an Kohlehydraten, Milcheiweiß (hauptsächlich Kasein), Fett, Mineralstoffen und Vitaminen. Dass die biotechnologische Produktion von Milch und Käse kein unrealistisches Szenario ist, beweist das Berliner Startup Formo. Es hat für seine ursprünglich auf Hefezellen basierende Käseproduktion rund 42 Mio. Euro aufgetrieben und stellt bereits Weichkäse wie Mozzarella und Ricotta her. Gereifte Käsesorten wie Emmentaler, Gruyère oder Appenzeller sollen folgen. Der erste Käse aus Hefezellen-Kasein soll bereits in zwei Jahren auf dem Markt sein. Bis 2025 soll das Produkt preislich mit herkömmlichem Käse aus Kuhmilch konkurrieren können. Neben Formo züchten auch andere Start-ups wie New Culture, Perfect Day oder Turtle Tree Labs das Milcheiweiß Kasein. 

Kritikpunkt: gentechnisch veränderte Mikroorganismen
Hergestellt wird der tierfreie Käse mithilfe von Präzisionsfermentation. Mittels CRISPR/Cas9-Technik werden Bierhefen dazu gebracht, Kasein herzustellen, das normalerweise nur in der Kuh produziert wird. In dieser Verlagerung von Makroorganismen zu Mikroorganismen durch die Präzisionsfermentation sieht der US-Think-Tank RethinkX das größte Potenzial für die Herstellung neuer Lebensmittel und alternativer Proteine. Er prognostiziert sogar, dass sich die Zahl der Rinder in den USA bis 2030 halbieren und in Folge die traditionelle Milch- und Fleischindustrie kollabieren werde [5]. Die Milchindustrie, die momentan noch größte Lebensmittelbranche in Deutschland [6], setzt genau hier mit ihrer Kritik an: Die Plattform Agrar heute wies darauf hin, dass das Kasein von gentechnisch veränderten Mikroorganismen stamme und es dadurch beim deutschen Verbraucher schwer haben dürfte. Da die Kasein-produzierenden Zellen vorher abgeschöpft werden, ist die Gentechnik im Käse jedoch nicht mehr enthalten. 

Zellbasiertes Hühnereiweiß 
Neben Fleisch, Fisch und Milch könnte in Zukunft auch das Ei ohne die Henne produziert werden. Forscher:innen der Universität Helsinki ist es gelungen, Ovalbumin, das häufigste Protein im Eiklar, in gentechnisch veränderten Pilzen im Labor herzustellen. Zwar gibt es bereits zahlreiche pflanzliche Ei-Ersatzprodukte, doch Ovalbumin ist diesen deutlich überlegen. Das Labor-Eiweiß benötigt in seiner Herstellung 90 Prozent weniger Fläche und verursacht 31 bis 55 Prozent weniger Treibhausgase [7]. Währenddessen soll im Herbst 2023 in Deutschland ein Ei auf komplett pflanzlicher Basis auf den Markt kommen, das nach Auskunft des Start-Up Neggst nicht nur aussieht wie ein echtes Ei, sondern auch so eingesetzt werden kann. 

Globale Fleischnachfrage steigt
Doch was ist die Lösung: Laborfleisch oder pflanzliches Fleisch? Oder gibt es vielleicht nicht nur die eine Lösung? Marktberichte prognostizieren für beide Bereiche große Wachstumsraten. Aus ökologischer Sicht haben pflanzenbasierte Produkte die beste Bilanz. Andererseits steht dem Wachstum von Laborfleisch und pflanzlichem Fleisch eine andere Zahl gegenüber: Bis 2050 wird die globale Fleischnachfrage voraussichtlich um 70 Prozent steigen [8]. Obwohl pflanzenbasierte Ersatzprodukte die tierischen Pendants immer besser nachahmen – mittlerweile werden auch für Soja- und Erbsenprotein 3D-Drucktechnologien entwickelt, um Geschmack und Textur zu verbessern – halten es Expert:innen für unwahrscheinlich, dass in Zukunft eine Mehrheit auf Fleisch auf tierischer Basis gänzlich verzichten wird.  

Laborfleisch oder pflanzliches Fleisch?
Es steht außer Frage: Eine einfache rein pflanzliche Ernährung wäre die einfachste, günstigste und schnellste Lösung. Andererseits drängt die Zeit. Weder Klimakrise noch Artensterben, noch die planetaren Grenzen warten darauf, wie wir uns entscheiden. Vor diesem Hintergrund könnte kultiviertes Fleisch dazu beizutragen, zukünftig den weltweiten Fleischkonsum abzudecken [9]. Außerdem könnte es als Nahrung für Haustiere dienen. Um die drängenden Probleme zu lösen, wird es deswegen nicht nur die eine Lösung geben, um unser Proteinangebot nachhaltig und ethisch sauber zu diversifizieren. Wir werden alle Möglichkeiten nutzen müssen. 

[1] Jetzke T., Dassel K. (2023): Potenziale und Herausforderungen einer zellkulturbasierten Fleischproduktion, Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag. DOI: 10.5445/IR/1000156303. Online unter: https://publikationen.bibliothek.kit.edu/1000156303 

[3] Sinke, P., Swartz, E., Sanctorum, H. et al. (2023) Ex-ante life cycle assessment of commercial-scale cultivated meat production in 2030. Int J Life Cycle Assess 28, 234–254.

[4] CE Delft, “TEA (Techno-Economic Analysis) of cultivated meat: Future projections of different scenarios – corrigendum”, November 2021.

[5] Rethinkx (2019). Rethinking Food and Agriculture 2020-2030, https://www.rethinkx.com/food-and-agriculture

[6] Milchindustrie-Verband (2020). Fakten Milch. Milch und mehr – die deutsche Milchwirtschaft auf einen Blick. September 2020.

[7] www.utopia.de “Hühner-Eiweiß – aber aus Pilzen? Das soll Wissenschaftler:innen jetzt gelungen sein”, 18.01.22 

[8] Schätzungen der Welternährungsorganisation FAO  

[9] Treich, N. Cultured Meat (2021), Promises and Challenges. Environ Resource Econ 79, 33–61.