Agrar- und Ernährungswende Zelluläre Landwirtschaft

Kommentar: „Künstliches Fleisch suggeriert, dass die „Essbarkeit“ von Tieren kein Problem ist!“

Dr Arianna Ferrari. Foto: Marlon Ferrari

Dr. Arianna Ferrari ist unabhängige Wissenschaftlerin mit den Schwerpunkten Tierethik, Critical Animal Studies und Wissenschaftsphilosophie. Während es Stimmen gibt, die das sogenannte „Clean Meat“ als mögliche Lösung der Ernährungs- und Umweltprobleme sehen, sieht sie diesen Ansatz kritisch. Sie fordert eine strenge Auseinandersetzung damit, wie mit den „Spendertieren“ umgegangen wird und gibt zu bedenken, dass mit dem Verzehr tierischer Produkte das Symbol der Ausbeutung und Unterdrückung bestehen bleibt. 

Dr. Ferrari, Unternehmen, die In-vitro-Fleisch und -Fisch produzieren, werben damit, dass dadurch Tierleid und Tötung beendet werden. Stimmen Sie dem zu? 

Für In-vitro-Fleisch müssen Rinder, Schweine und Hühner nicht sterben, sie müssen nach der Muskelbiopsie (Entnahme von Muskelgewebe am lebenden Tier) nur gut versorgt werden. Anders sieht es bei In-vitro-Fisch aus: Derzeit verursacht die Biopsie an Fischen eine so große Wunde, dass sie im Wasser viel anfälliger für Keime werden und leiden würden. Deswegen töten Forscher:innen diese Fische aus Tierwohlgründen. Man forscht weiter an der Möglichkeit von effizienten Probeentnahmen aus Schwanzflossen, so dass die Fische danach ein gutes Leben haben könnten. Es ist zudem geplant, nur an ganz wenigen Tieren Eingriffe beziehungsweise Tötungen vorzunehmen, weil man mit so genannten „immortalisierten Stammzelllinien“ arbeiten will. Dabei handelt es sich um Zelllinien, die sich selbst reproduzieren können. Die Tiere würden dann in Zukunft ganz in Ruhe gelassen.  

Doch unter welchen Umständen diese Tiere an Land oder im Wasser leben werden, wird nicht diskutiert – werden sie frei und gut versorgt leben? Man kann sich vorstellen, dass „spezialisierte“ Tiere für die Probeentnahme gezüchtet werden. Vor einigen Jahren hatte Mark Post (ein Pionier des zellulären Fleisches) sogar die Möglichkeit von optimierten Nutztieren als „Stammzelllieferanten“ diskutiert. Die Debatte ist so auf die ökologischen Vorteile konzentriert, dass Tierschutz-Gründe sehr allgemein und Tierrechts-Herausforderungen gar nicht diskutiert werden. Alles gilt als besser gegenüber der Misere der heutigen Tierhaltung und Fischerei.  

Realpolitisch muss man zugeben: Die wenigsten Menschen – auch in den industrialisierten Ländern – sind vegan, der größte Trend ist der Flexitarismus. Wenn man diese Innovationen für die breite Masse anstatt „konventionellem“ Fleisch und Fisch hätte, könnte man tatsächlich einer unglaublichen Anzahl von Tieren den Tod ersparen. De facto werden aber jetzt Fische dafür getötet und zum Teil auch Stammzellen verwendet, die aus Embryonen gewonnen werden. Aus einer konsequenten Tierrechts-Perspektive gibt es daher viel zu kritisieren: Der jetzige Innovationsdiskurs ist komplett von der Idee eines grünen Wachstums durchdrungen. Tierwohl wird nur stiefmütterlich behandelt. Das ist ein großes Problem, falls die ökologischen Vorteile dieser Innovationen doch nicht so gut wie erhofft umsetzbar sind. 

In der Tat gibt es jetzt schon Ansätze in der Debatte, die eine nachhaltige Landwirtschaft ohne diese Produkte, aber weiterhin mit Tierhaltung und Fischerei, sehen. Aus einer tierrechtlichen Perspektive wäre es konsequent, dass man sich streng mit den Bedingungen der Forschung und Entwicklung dieser Innovationen auseinandersetzt. Das tut im Moment niemand der Befürwörter:innen. Dazu müssen keine Tiere sterben und (schwer) verletzt werden. Zurzeit wird zudem mit In-vitro-Fleisch aus exotischen, bis jetzt nicht dem Speiseplan zugehörenden, Tierarten spekuliert. Damit nicht immer wieder neue In-vitro-Fleisch/Fisch-Sorten entwickelt werden, müsste die Zahl der „immortalisierten Zelllinien“ begrenzt werden. Zumindest muss sichergestellt sein, dass die dafür benötigten Tiere gut behandelt werden und „frei“ zusammen mit anderen Artgenossen leben können. Problematisch bleibt die Biopsie: Sie ist ein körperlicher Eingriff, dem das Tier nicht „zustimmen“ kann. Aber vor allem bleibt die Frage: Da diese Produkte weiterhin suggerieren, dass die „Essbarkeit“ von Tieren kein Problem ist, können sie tatsächlich zur Verbreitung des Tierrechtsgedankens beitragen? Ich bin da sehr skeptisch.