Missstände im Genehmigungsprozess

Ethische Vertretbarkeit: Es fehlt das Handwerkszeug

Dreh- und Angelpunkt im Genehmigungsverfahren sind die zuständigen Behörden und die Tierversuchskommissionen. Doch beide haben bei der äußerst schwierigen Abwägung, ob die zu erwartenden Schmerzen, Leiden oder Schäden der Tiere ethisch vertretbar sind, keine einheitlichen Bewertungskriterien. Dies führt dazu, dass die vorgeschriebene Güterabwägung nach subjektiven Kriterien erfolgt. Die Leidtragenden dieser Willkür sind die Tiere. 

Mitglieder der Kommissionen nach § 15 Tierschutzgesetz sollen sich in ihrer Stellungnahme insbesondere zur gesetzlich geforderten Unerlässlichkeit eines geplanten Tierversuches äußern. Dazu müssen sie beispielsweise feststellen, ob der Versuch alternativlos ist. Wenn das Ziel des Tierversuchs auch durch tierversuchsfreie Verfahren erreicht werden kann, ist er nicht unerlässlich und damit auch nicht ethisch vertretbar. Dennoch werden fast alle beantragten Tierversuche genehmigt, auch, wenn die Anträge teils eklatante Mängel aufweisen. Doch woran liegt das?  

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Keine einheitlichen Bewertungskriterien
Zum einen liegt es an der unausgewogenen Besetzung der Kommissionen, in denen die Tierversuchsbefürworter in der Regel die Mehrheit bilden. Eine weitere Ursache ist, dass keine einheitlichen Bewertungskriterien für diese schwierige Aufgabe existieren. Weder den Antragstellern noch den Kommissionsmitgliedern oder den Behörden stehen verbindliche Prüfkriterien zur Verfügung, um die geforderte Unerlässlichkeit festzustellen. Dies wäre nicht nur nötig, um Tierversuche zu vermeiden. Nur mit verbindlichen Kriterien kann es einheitliche Standards bei der Bewertung von Tierversuchsanträgen in Deutschland und der EU geben. 

Kein Kriterienkatalog in Sicht
Die EU-Tierversuchsrichtlinie verlangt vor der Genehmigung eines Tierversuchs, dass die Behörde eine Schaden-Nutzen-Analyse durchführt. Damit ein Versuch als ethisch vertretbar gilt, muss der Nutzen für den Menschen gegenüber den tierlichen Interessen überwiegen. Bei der Güterabwägung müssen theoretisch alle Faktoren abgewogen werden. Beispielsweise muss in den Tierversuchsanträgen und den sogenannten nicht-technischen Projektzusammenfassungen (NTPs) angegeben werden, welche Belastungen und Schäden der Tiere erwartet werden und was mit ihnen am Ende des Versuchs geschehen soll. Zur Ermittlung des Schadens ist dabei nicht nur die Belastung während des eigentlichen Versuchs relevant. Es müsste eigentlich eine Belastungsbilanz über die gesamte Lebenszeit hinweg erhoben werden. Dazu gehören auch Schmerzen. Leiden oder Schäden, die durch die Zucht oder eine genetische Manipulation zustande kommen. 

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Belastungen zu gering eingestuft
Doch die Antragsteller neigen dazu, den Nutzen ihrer Forschung zu überschätzen und das Leid der Tiere zu wenig zu berücksichtigen. Bei einer hohen Belastung der Tiere muss der vermeintliche Nutzen eines Tierversuchs von herausragender Bedeutung sein. Aus diesem Grunde wird die zu erwartende Belastung in den Anträgen tendenziell niedriger eingestuft als sie tatsächlich ist. Der Bundesverband und andere Tierschutzorganisation fordern deswegen schon lange, dass die Antragsteller zu einer rückblickenden Bewertung aller Versuche verpflichtet werden. Diese Bewertungen könnten Behörden und Kommissionsmitgliedern zur Verfügung stehen und für die zukünftige Beurteilung der ethischen Vertretbarkeit genutzt werden. Die Anträge sollten zudem die Frage beantworten, welcher wissenschaftliche Fortschritt durch das Projekt erreicht werden soll und wie wichtig er ist. Wenn die Untersuchungen der Gesundheit von Menschen und Tieren dienen sollen, sollten zudem Angaben über die Schwere und Häufigkeit der untersuchten Erkrankung gemacht werden müssen. Bei der Grundlagenforschung müsste zudem verpflichtend sein, dass der Antragsteller beispielsweise den praktischen Nutzen eines Tierversuchs darstellt. 

Praxistaugliche Datenbanken fehlen
Doch es fehlen nicht nur konkrete Kriterien. Im Rahmen der Unerlässlichkeitsprüfung muss auch festgestellt werden, ob es tierversuchsfreie Methoden gibt, die statt des Tierversuchs eingesetzt werden können. Doch auch diese Frage ist aktuell nicht zuverlässig zu beantworten. Die Beteiligten bräuchten dafür praxistaugliche und umfassende Datenbanken. Diese müssen eine aktuelle Übersicht bieten, welche alternativen Verfahren weltweit zur Verfügung stehen. Wenn dies gewährleistet wäre, könnten viele Tierversuche durch tierfreie Verfahren ersetzt werden. Wenn dies nicht möglich ist, könnten sie zumindest dazu dienen, die Zahl der eingesetzten Tiere zu reduzieren beziehungsweise ihr Leid zu lindern. Doch solche Datenbanken und Sammlungen gibt es bisher nur in Ansätzen. Umfassend und aktuell ist derzeit keine.  

Suche nach der Nadel im Heuhaufen
Die älteste in Deutschland bekannte Datenbank ist die AnimAlt-ZEBET, die einst von der Zentralstelle zur Erfassung und Bewertung von Ersatz- und Ergänzungsmethoden zum Tierversuch (ZEBET) beim Bundesinstitut für Risikobewertung geführt wurde. Dort enthalten sind 149 Einträge über Ersatzverfahren zum Tierversuch aus den Jahren 1998 bis 2012. Die Datenbank wird jedoch seit langem nicht mehr gepflegt. Eine andere Übersicht bietet die Sammlung RE-Place von der Vrije Universität in Brüssel mit 133 Einträgen. Mehr bietet die Plattform norecopa, die auf Basis der Norina-Datenbank 3.500 Einträge enthält. Hinzu kommt die EURL ECVAM Database on Alternative Methods to Animal Experimentation (DB-ALM), die zwischen 2000 und 2019 geführt wurde und 368 validierte Methoden listet. Eine weitere, aktuell geführte Übersicht bietet die NAT-Datenbank mit 279 Einträgen. 

Foto: pixabayUnmöglich: Zuverlässiger Abgleich
Dies ist nur eine Auswahl der existieren Angebote. Doch die Suche in diesen unterschiedlichen Datenbanken ist zeitaufwändig. Da sie unterschiedlich aufgebaut sind, ist ein zuverlässiger Abgleich unmöglich. Die Datensätze sind meist nicht miteinander vergleichbar. Sie bieten meist keinen Zugang zu den wissenschaftlichen Publikationen, die Suche ergibt zu viele, zu wenige oder schlicht irrelevante Ergebnisse. Dies macht die Prüfung, ob der Zweck des Tierversuchs nicht auch durch andere Methoden erreicht werden kann, zur sprichwörtlichen Suche nach der Nadel im Heuhaufen.  

Bibliografische und Meta-Datenbanken
Es gibt zwar auch Suchmaschinen, die die Recherche erleichtern, doch diese sind nicht allen Beteiligten bekannt. Während die meisten PubMed, google scholar und vielleicht noch das Web of Knowledge (Publons) kennen, sieht es beim ECVAM Search Guide, Science Direct, DIMDI oder der Suchmaschine Go-Bio 3R schon anders aus. Grundsätzlich sind viele Informationen im Internet verfügbar, die Frage ist eher, wie beispielsweise der Tierschutzvertreter, der am Sonntagabend über einem Tierversuchsantrag brütet, relevante Informationen aus der Vielzahl der weltweit verfügbaren Daten zu alternativen Verfahren erhalten soll. Auch, wenn er in unterschiedlichen Systemen parallel suchen würde, kann er nicht sicher sein, alle relevanten Informationen zu finden. 

Qualität variiert: Versuchsbeschreibungen
Neben der Recherche nach tierversuchsfreien Verfahren werden auch Informationen darüber benötigt, ob ein Versuch schon einmal von einer anderen Forschergruppe durchgeführt wurde. Ist dies der Fall und dieser hat keine relevanten Ergebnisse erbracht, dann wäre der erneute Versuch nicht genehmigungsfähig. Diese Informationen könnten auch dazu beitragen, einen Versuch von vorneherein besser zu planen. Gutachter oder Wissenschaftler könnten so die ursprünglich registrierten Inhalte mit der endgültigen Publikation vergleichen. Doch auch hier fehlt bisher eine zuverlässige Übersicht.  

Kein vollständiger Überblick
Es können zwar die sogenannten NTPs aus der Datenbank des Bundesinstituts für Risikobewertung konsultiert werden, dies ist jedoch keine verlässliche Quelle. Zum einen, weil die Versuchsbeschreibungen oft zu oberflächlich sind und zum anderen, weil die Qualität und Verständlichkeit der Einträge zu stark variieren. Das betrifft auch die Datenbank AnimalTestInfo, die eigentlich einen Überblick über bereits durchgeführte Tierversuche geben soll. Ein Ansatz könnte die geplante EU-weite Datenbank sein. Doch auch diese ist abhängig von der Qualität der Einträge. 

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Sinnvolle EU-Empfehlungen
Eine Bewertung der Umsetzung der EU-Richtlinie in 2017 bestätigte die Probleme mit den Versuchsdokumentationen. Als Konsequenz legte die European Animal Research Association (EARA) Empfehlungen vor, wie deren Verständlichkeit verbessert werden kann. Weitere Empfehlungen betrafen die Offenlegung der Kosten-Nutzen-Analyse, die verwendeten Tierarten sowie die Projektplanung und -durchführung im Sinne des 3R-Konzeptes. Revolutionär war ein neuer Ansatz bei der Belastungsbeurteilung. Anders als vorher sollte in den NTPs nicht mehr stehen, was mit dem Tier gemacht werden soll. Stattdessen sollte aufgezeigt werden, was das Tier tatsächlich erlebt und erleidet, beispielweise einfangen – fixieren – injizieren. Auch die Folgen des Eingriffs sollten beschrieben werden. 

Fehlen: verbindliche Kriterien und aktuelle Datenbanken
Wir stellen fest: Allen Beteiligten im Genehmigungsprozess fehlt es an geeignetem Handwerkszeug, um zuverlässig festzustellen, ob ein Tierversuch unerlässlich und ethisch vertretbar ist. Aktuell stehen weder den Antragstellern noch den Kommissionsmitgliedern oder den Behörden verbindliche Prüfkriterien oder Checklisten für die wichtige Güterabwägung zur Verfügung. Ähnlich sieht es bei den Datenbanken aus. Dies muss sich dringend ändern. Deswegen wird sich der Bundesverband weiterhin für die Einführung eines europaweiten Kriterienkatalogs und für umfassende und aktuelle Datenbanken einsetzen.