Missstände im Genehmigungsprozess

Tierversuche: Missstände machen Genehmigungsprozess zur Farce

Laut Tierschutzgesetz dürfen Versuche an Tieren nur dann durchgeführt werden, wenn sie unerlässlich und ethisch vertretbar sind. Von Tierversuchsbefürwortern wird oft auf das strenge Genehmigungsverfahren verwiesen. Doch unsere Auswertung zeichnet ein anderes Bild. Die massiven Missstände im gesamten Genehmigungsprozess machen das vermeintlich strenge Verfahren zur Farce. Der Bundesverband fordert deswegen eine umfassende Reform. 

In Deutschland werden jährlich über zwei Millionen Tiere in Versuchen eingesetzt. Offiziell dürfen nur Versuchsvorhaben genehmigt werden, wenn die staatlichen Genehmigungsbehörden feststellen, dass ein Tierversuch „unerlässlich“ ist. Erst dann gilt er als „ethisch vertretbar“. Doch verschiedene Analysen zeigen, dass die Behörden bei der vermeintlich strengen Prüfung fast jeden Antrag bewilligen. 

EU-Bericht belegt: kein Versuchsantrag abgelehnt
Aus einem aktuellen Bericht der Europäischen Kommission (1) geht hervor, dass in den Jahren 2015-2017 kein einziger Tierversuchsantrag abgelehnt wurde. Eine weitere Analyse, die auf Grundlage von spezifischeren Daten der deutschen Genehmigungsbehörden basiert, kommt zu einem vergleichbaren Ergebnis (2). Das Fazit: So gut wie alle Tierversuche werden von den Behörden genehmigt. Doch wie kommt der Widerspruch zustande, dass einerseits vermeintlich streng geprüft wird und andererseits fast jeder Antrag durchkommt?  

Behörden ohne eigenständiges Prüfrecht
Die Antwort liegt zumindest teilweise in der gesetzlichen Basis. Die Grundlage für das Genehmigungsverfahren bildet das Tierschutzgesetz. Dieses regelt in §8, wie der schwierige Abwägungsprozess verlaufen muss. Grundsätzlich darf ein Tierversuch nur dann genehmigt werden, wenn die staatlichen Genehmigungsbehörden feststellen, dass er „unerlässlich“ und damit „ethisch vertretbar“ ist. Doch die letzte Revision dieses Abschnittes im Jahr 2013 hatte zur Folge, dass die genehmigende Behörde nur noch eine reine Plausibilitätsprüfung durchführen darf. Wenn der Antragsteller „wissenschaftlich begründet dargelegt“ hat, warum ein Versuch durchgeführt werden muss, muss die Behörde die Genehmigung erteilen.  

Die Maus ist das „Versuchstier“ Nummer eins. Foto: mrks_v-Fotolia

Neufassung behebt Mangel nicht konsequent
Dadurch wurde das eigenständige Prüfrecht der Behörde komplett ausgehebelt. Dies ermöglichte einen Durchmarsch für den Antragsteller. Doch dies soll sich jetzt ändern. Denn Deutschland überarbeitet derzeit auf Druck der EU sein Tierversuchsrecht. Doch auch der vorliegende Entwurf der Bundesregierung behebt den fatalen Fehler nicht konsequent. Er lässt einen Interpretationsspielraum zu, so dass zu befürchten ist, dass das faktische Prüfungsverbot für die Behörde weiterhin bestehen bleibt. Deswegen setzt sich der Bundesverband aktuell dafür ein, dass klar festgelegt wird, dass ein Tierversuch erst dann zu genehmigen ist, wenn nach „umfassender, unabhängiger und selbständiger Prüfung“ der zuständigen Behörde bestätigt wurde, dass er rechtmäßig ist. Ob ihm dies gelingt, ist jedoch noch nicht klar. 

An der Tagesordnung: systematische Rechtsbrüche
Massive Missstände finden aber auch jenseits des Genehmigungsverfahrens statt. Dann nämlich, wenn bewusst gegen Tierschutzrecht verstoßen wird. Dies haben die furchtbaren Bilder von leidenden Hunden aus dem Laboratory of Pharmacology and Toxicology (LPT) im niedersächsischen Mienenbüttel eindringlich gezeigt. Ein weiteres aktuelles Beispiel war die im Juli bekanntgewordene illegale Tötung von zehn Weißbüschelaffen im Deutschen Primatenzentrum Göttingen (DPZ). Nach Angaben der ermittelnden Staatsanwaltschaft standen mehrere Mitarbeiter unter dem Verdacht, die gesunden Tiere aus rein wirtschaftlichen Gründen eingeschläfert zu haben.  

Kommen vor: illegale Tierversuche
Ein vergleichbarer Fall wurde 2016 am Leibniz-Institut für Altersforschung in Jena bekannt, wo rund 13.000 gesunde Mäuse nur aus Platzgründen getötet worden sein sollen. Weitere Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit waren illegale Versuche an Mäusen 2019 am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) sowie 2017 an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) Münster. Wenn hier von illegalen Tierversuchen die Rede ist, dann bedeutet dies, dass die Versuche schlicht ohne Genehmigungsverfahren und damit ohne Wissen der Behörden durchgeführt wurden. 

Dr. Kirsten Tönnies

Kontrollsystem scheitert
In einem Interview erklärt die Tierärztin Dr. Kirsten Tönnies (3), die selbst früher Tierversuche durchführte, diese massiven Tierschutzverstöße. Zum einen käme es nicht selten vor, dass Pfleger und Wissenschaftler*, die mit den Tieren umgehen, schlicht die Nerven verlören. Denn die Tiere wehren sich teils heftig gegen die oft schmerzhaften Eingriffe. Als Schuldigen für das Verhindern von Tierschutz im Labor macht sie vor allem die eigenen Berufskollegen aus: die Amtstierärzte. Zwar gäbe es auch unter ihnen engagierte Kollegen, diese würden jedoch oft von höheren Ebenen daran gehindert, das Tierschutzrecht vor Ort korrekt anzuwenden. Hauptproblem seien meist zu enge Verbindungen zwischen Landrat, Politikern und Amtsveterinären. Ähnlich ginge es den Tierschutzbeauftragten in den Laboren. Grundsätzlich sei es ihre Aufgabe, Tierschutzprobleme auf- und wenn nötig auch anzuzeigen. Doch auch sie würden nicht selten daran gehindert. 

Tierschutzbeauftragte in schwerer Position
Diese Erkenntnisse werden von einer Umfrage des Bundesverbandes gestützt, die unter Tierschutzbeauftragten und -gremien an deutschen Instituten durchgeführt wurde (4). Nach §-10 Tierschutzgesetz müssen Einrichtungen, in denen Tierversuche an Wirbeltieren durchgeführt werden, einen oder mehrere Tierschutzbeauftragte bestellen. Diese sind nicht nur für die Einhaltung der Regeln bei laufenden Tierversuchen verantwortlich. Sie sind auch die Instanz, die zukünftige Antragsteller bei der Projektplanung zum möglichen Ersatz von Tierversuchen, der Reduktion von Tierzahlen in geplanten Versuchen sowie der Linderung von Tierleid während der Versuche beraten soll.  

Fehlende Ressourcen und Kenntnisse
In der Befragung gab ein Teil der Tierschutzbeauftragten an, dass es noch Raum nach oben geben würde, bezüglich der Umsetzung der 3R (5, siehe Seitenende) an ihren Einrichtungen. Dies ist interessant, da in Versuchsanträgen ja dargelegt sein sollte, wie die 3R ausgenutzt wurden, um Tierleid zu vermindern. Als Gründe wurden unter anderem Zeitmangel oder zu wenig verfügbare Informationen zu dem jeweiligen Thema angegeben. Die Umfrage zeigte zudem auch Unterschiede zwischen den verschiedenen Einrichtungen. Zum einen werden Pflichten und Verantwortlichkeiten von Tierschutzbeauftragten unterschiedlich ausgelegt. Zum anderen stehen nicht allen die gleichen Ressourcen und Ausstattung für ihre Aufgabe zu Verfügung. Doch wenn die Tierschutzbeauftragten nicht ausreichend ausgestattet werden, wird es ihnen schwer bis unmöglich gemacht, ihren Aufgaben nachzukommen. 

Foto: AdobeStock/roman_pelesh

Mängel im System der §15-Kommissionen
Ein weiterer hochproblematischer Bereich ist der der sogenannten beratenden Kommission, auch §15-Kommission. Um einen Tierversuch durchführen zu dürfen, muss der Forscher zunächst einen Antrag bei der zuständigen Genehmigungsbehörde einreichen – in Deutschland sind das meist die Regierungspräsidien. Diese werden bei ihrer Arbeit von den §15-Kommissionen unterstützt. Diese werden nach §15 Absatz 1 Satz 2 Tierschutzgesetz berufen und setzen sich gemäß der Tierschutz-Versuchstierverordnung aus Veterinärmedizinern, Medizinern, Naturwissenschaftlern und einem Biometriker zusammen. Hinzu kommen ein Ethiker und Vertreter des Tierschutzes. Die Tierschutzvertreter haben in der Regel ebenfalls einen wissenschaftlichen Hintergrund oder müssen zumindest „auf Grund ihrer Erfahrungen zur Beurteilung von Tierschutzfragen geeignet“ sein. Da alle Beteiligten zur Verschwiegenheit verpflichtet sind, ist die Arbeit in den Kommissionen ein Prozess hinter verschlossenen Türen. Das Votum des Gremiums hat nur eine beratende Funktion. Die Entscheidung, ob ein Tierversuch durchgeführt werden darf oder nicht, trifft letztendlich die zuständige Behörde.  

Oft zu niedrig angesetzt: Schweregrad
Der Bundesverband konnte aktuelle und ehemalige Mitglieder von §15-Kommissionen anonym zu ihren Erfahrungen befragen. Was die Einschätzung der Tierversuchsanträge betrifft, berichten die Tierschutzvertreter, dass der Schweregrad von Versuchen von den Antragstellern oft als zu niedrig angegeben wird. Die Experimentatoren scheinen dazu zu neigen, den Nutzen ihrer Forschung zu überschätzen, während sie das Leid der Tiere zu wenig berücksichtigen. Auch die Nachweise, warum die Projekte nicht ganz oder zumindest teilweise mit tierfreien Methoden durchgeführt werden können, sind nach Ansicht der Tierschutzvertreter häufig mangelhaft. 

Enorme zeitliche und emotionale Belastung
In fast allen Antworten wurde deutlich, dass die Beschäftigung mit den Tierversuchsanträgen eine enorme emotionale Belastung ist. Denn die Tierschutzvertreter müssen mit dem Wissen zurechtkommen, was konkret mit Tieren in Versuchen geschehen soll. Zudem fühlen sie sich dafür verantwortlich, das Leid der Tiere zu begrenzen. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass eine gewissenhafte Bewertung der Fülle von monatlichen Anträgen enorm zeitaufwändig ist. Die anspruchsvolle Aufgabe ist zudem ein Ehrenamt, das lediglich mit einer kleinen Aufwandsentschädigung vergütet wird. Was die Arbeit in einer §-15-Kommission letztlich völlig undankbar macht, ist die Tatsache, dass, auch bei einer genauen Prüfung der Anträge und obwohl alle Möglichkeiten zur Vermeidung von Tierleid ausgeschöpft werden, die Tierschutzvertreter in der Unterzahl sind. Und auch, wenn der unwahrscheinliche Fall eintritt, dass sich die Kommission mehrheitlich gegen einen Tierversuch ausspricht, liegt die Entscheidung letztlich bei der Behörde. 

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Tierschutz-Vertreter in der Unterzahl
Seit Jahren kritisieren Tierschutzorganisationen, dass die Tierschützer in der Minderheit sind und die Voten der Kommissionen kaum beeinflussen können. Meist ist das Verhältnis in den §15-Kommissionen zwei Drittel zugunsten der Tierversuchsbefürworter. Dies führt dazu, dass die Tierschutzseite bei Einwänden regelmäßig überstimmt wird. Die Folge ist, dass einige Tierschutzvereine mittlerweile nicht mehr bereit sind, überhaupt Vertreter in die Kommissionen zu entsenden. Deswegen herrscht vielerorts ein Mangel an Kandidaten. Das Resultat ist, dass immer häufiger freiwerdende „Tierschutz“-Sitze in den Kommissionen mit Vertretern besetzt werden, die durch ihre Tätigkeit eher der “Pro“-Tierversuchsseite zuzuordnen sind, da sie beispielsweise als Tierärzte oder Tierschutzbeauftragte selbst an Tierversuchsvorhaben beteiligt sind oder waren. 

Umfassende Reform unabdingbar
Zusammengenommen machen diese eklatanten Missstände das vermeintlich strenge Genehmigungsverfahren zur Farce. Statt den Tierschutz durchzusetzen, verkommt das aufwändige Genehmigungsverfahren zu einem Alibi zur Legitimierung von Tierversuchen – ein unhaltbarer Zustand. In den folgenden Artikeln werden wir aufzeigen, warum eine umfassende Reform des gesamten Genehmigungsprozesses unabdingbar ist. Und wir werden aufzeigen, was dafür nötig ist. Denn solange noch Tierversuche durchgeführt werden, muss zumindest gewährleistet sein, dass sie tatsächlich streng geprüft werden. 

 

* Im Interesse der Lesbarkeit haben wir auf geschlechtsbezogene Formulierungen verzichtet. Selbstverständlich sind immer Frauen und Männer gemeint, auch wenn explizit nur eines der Geschlechter angesprochen wird. 

Quellen: