Allgemein Industrielle Tierhaltung Interviews

Interview: Corona – wir stehen am Scheideweg

Dr. Kurt Schmidinger ist Lebensmittelwissenschaftler und Geophysiker. Er ist zudem Gründer des Projektes Future Food, das sich mit Alternativen zu Tierprodukten beschäftigt.

1. Herr Dr. Schmidinger, können wir nach COVID-19 weitermachen wie bisher?

Können schon, aber es wäre dumm. Kinder greifen nur einmal auf die heiße Herdplatte. Wir erwachsene Menschen agieren da global um einiges weniger lernfähig. Gerade im Bereich Fleischkonsum und industrielle Nutztierhaltung scheinen wir alles in Kauf zu nehmen, wenn’s dafür schmeckt und wir mit keinen Gewohnheiten brechen müssen. Da opfern wir Regenwälder für Rinderweiden und Futtermittel, nehmen die Klimakrise in Kauf, genauso wie hohe Nitratwerte im Grundwasser, einen enormen Wasserverbrauch, Bodenerosion durch die großen Futtermittelmonokulturen. Wir akzeptieren den Verlust von Artenvielfalt durch Bodenerosion und Überdüngung, eine enorme Verschwendung von Kalorien durch die Verlängerung der Nahrungskette (Pflanze-Tier-Mensch).

Da ist ein(e) Durchschnittsdeutsche(r) bereit, rund 1000 Tieren ein Leben in der industriellen Nutztierhaltung aufzuzwingen. Da nehmen wir sogar für uns selbst ein erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Typ-2-Diabetes, einige Formen von Krebs und auch einige Autoimmunerkrankungen in Kauf. Wir opfern dafür vielleicht auch noch unsere Antibiotika, weil wir 70 bis 80 Prozent davon weltweit nicht für die Behandlung menschlicher Krankheiten einsetzen, sondern dafür, dass wir industriellen Nutztierhaltung betreiben können. Und wir riskieren potentiell schwere Pandemien. Vielleicht hat uns COVID-19 einen lehrreichen Schrecken eingejagt, nicht nur gesundheitlich, sondern auch wirtschaftlich und psychologisch. Eine weitere, vielleicht schwerere Pandemie mit einer höheren Sterberate könnten wir kaum noch stemmen. Das wollen wir doch nicht wirklich, oder?

Vielleicht ist es ein Wendepunkt, der Tropfen, der das Fass für die Gesellschaft, Medien und letztlich die Politik volllaufen lässt. Vielleicht schaffen wir einen Umschwung in der Ernährung, auch durch die vielen Innovationen zum Ersetzen von Fleisch, Milch und Eiern? Man denke nur an den fulminanten Börsengang von Beyond Meat zum Beispiel, oder an aus Zellen gezüchtetes Fleisch, das immer näher Richtung Marktreife rückt. Vielleicht bin ich da jetzt auch zu optimistisch, und wir müssen noch mehr mit dem Kopf gegen die Wand. Jedenfalls stehen wir absolut an einem Scheideweg!

Seinen Ursprung hat das Virus höchstwahrscheinlich auf einem sogenannten Nassmarkt in Wuhan, wo lebende und tote Tiere zum Verzehr verkauft wurden. Foto: Pixabay

2. Was sind die größten Risikofaktoren für globale Pandemien?

Da sind der Handel mit Wildtieren, und diese unsäglichen Wildtiermärkte, sowie die Jagd auf Wildtiere. Und natürlich das Vordringen in Gebiete, in denen Wildtiere mit für Menschen fremden Viren existieren, also z.B. durch die Regenwaldzerstörung. Womit wir bei der Tierhaltung angelangt sind, die gerade im Amazonas den größten Teil der Regenwaldzerstörung verschuldet hat – durch Rinderweiden oder Futtermittelanbau, vor allem Soja. Aber die Tierfabriken selbst sind auch ein Gefahrenherd für Pandemien. Zur Pandemiebekämpfung gilt ja social distancing unter Menschen. Gleichzeitig praktizieren wir in den industriellen Nutztierhaltungen das genaue Gegenteil, Supercrowding unter unhygienischsten Bedingungen von aktuell 175 Millionen Hühnern und Puten und 27 Millionen Schweinen in Deutschland. Und wir vertrauen darauf, dass uns die Speziesgrenze vor neuen Viren schützt. Und noch was: In der Natur sterben sehr tödliche Mutationen von Viren gemeinsam mit ihrem Wirt rasch aus. In der Massentierhaltung ist dieser Schutz ausgehebelt, da ein sterbendes, infiziertes Tier das tödliche Virus noch an zigtausende andere Tiere und an die Arbeiter im Betrieb weitergeben kann. Die auf den Feldern ausgebrachten Massen an Gülle infizieren zudem Wildtiere mit dem Virus. Feinstaub und Insekten können ebenfalls Viren transportieren, wie Studien gezeigt haben. Das Märchen von „biosecurity“ in Tierfabriken ist eine komplette Illusion.

3. Was muss auf den verschiedenen Ebenen geschehen? Was sind Ihre Forderungen an Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft?

Vegane Buger auf pflanzlicher Basis sind auf dem Vormasch. Foto: Impossible Foods

Es gibt vorsichtig positive Tendenzen auf EU-Ebene im Zuge des „Green Deals“ und der „Farm to Fork“-Strategie. Alles aber sehr vage, und hier kommt die Zivilgesellschaft ins Spiel, wir brauchen sie als Gegengewicht zu den agrarindustriellen Lobbyisten, um diese EU-Ansätze in die richtige Richtung pushen, zu einer totalen Abkehr der Förderung von industrieller Tierhaltung und auch zum Verbot solcher Praktiken. Parallel kann die Zivilgesellschaft jetzt schon rechtliche Wege beschreiten, Klagen gegen Politik oder einzelne Betriebe auf Grundlage der Pandemieabwehr, des Grundwasserschutzes, des Staatsziel Tierschutz, des Schutzes unserer Antibiotika usw. – aber alles gut abgesprochen untereinander. Und die Medien weiter anstacheln, das Thema und den Druck immer größer zu machen.

Die Wissenschaft und Wirtschaft können pflanzliche Alternativen zu Tierprodukten optimieren, die man zwar für eine gesunde vollwertige Ernährung nicht braucht, für einen Ernährungs-Umstieg großer Teile der Bevölkerung aber umso mehr. Zelluläre Landwirtschaft, v.a. aus Zellen gezüchtetes „kultiviertes Fleisch“ könnte auch eine Revolution einleiten. Parallel kann man natürlich als Individuum oder Organisation besonders gesunde vegane Ernährungsweisen wie „whole food plant based“ propagieren, aber den Schweinbratenesser wird man nicht direkt auf diese Schiene locken können, außer vielleicht nach drei, vier knapp überlebten Herzinfarkten. Deshalb brauchen wir auch untereinander viel Toleranz, die Rohkost-Fraktion soll die Fraktion, die an kultiviertem Fleisch forscht nicht verdammen. Ich persönlich bin ein Fan möglichst vieler Parallelstrategien, um die Wahrscheinlichkeit zu maximieren, die unsägliche industrielle Nutztierhaltung endlich loszuwerden!

4. Wie kann es gelingen, die kapitalorientierte industrielle Landwirtschaft abzuschaffen?

Nährboden für krankmachende Keime: die industrielle Tierhaltung. Foto: tierrechte.de

Durch Katastrophen, die massiver sind als COVID-19, wie z.B. dem Ende funktionierender Antibiotika, von denen die industrielle Tierhaltung abhängt. Durch eine mörderische Pandemie mit hoher Sterblichkeit und Mensch-zu-Mensch-Übertragbarkeit, vielleicht durch neue Influenza-Stämme aus der Schweine- oder Geflügelhaltung. Schönere Szenarien gewünscht? Vielleicht durch politische Vernunft aus ökologischen Notwendigkeiten, bevor es zu spät ist, Stichwort „Green Deal“ der EU, falls die EU da etwas Konstruktives schafft, auch mit unserem Druck. Im schönsten Fall durch unsere menschliche Vernunft bis hin zu unserem Konsumverhalten.

Aber ist die Menschheit dazu in der Lage, oder ist das doch zu unrealistisch? Okay, wie wär’s mit großartigen Alternativen zu Tierprodukten, die Tierprodukte in Geschmack, Aroma, Sortenvielfalt, vielleicht auch Preis und jedenfalls gesundheitlich in den Schatten stellen? Wiesenhof, Tyson Foods, und viele andere riesige Agro-Konzerne investieren in pflanzliche Tierproduktalternativen oder in kultiviertes Fleisch, um weiterhin voll im Geschäft zu sein, wenn sich der Wind drehen sollte gegen die industrielle Nutztierhaltung. Andere wie Tönnies sind sturer, die werden dann untergehen, oder noch rechtzeitig zur Vernunft kommen.

Kuhköpfe und Hufe auf einem Marktstand. Foto: Pixabay

5. Laut einer kürzlich veröffentlichten Umfrage der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften und der Körber-Stiftung glauben nur vier von zehn Deutschen (40 Prozent), dass Fleischverzicht ein notwendiger Beitrag zur Sicherstellung der Welternährung sei. Besonders skeptisch sind Männer im Alter zwischen 35 und 65 Jahren (32,3 Prozent). Wie könnte man diese Gruppe erreichen und überzeugen?

Lustig, punktgenau in der Alters-Mitte dieser besonders skeptischen männlichen Gruppe befinde ich mich, aber ja, Ausnahmen bestätigen die Regel. Da sind Marketingleute und Psycholog(inn)en gefragt, um zu eruieren, was genau diese Gruppe davon abhält, sich nachhaltig und vernünftig zu ernähren. Und dann müssen wir versuchen, die Strategie anzupassen. Gegen den Wahn a la „Fleisch = stark und männlich“ helfen Dokus wie „Game Changers“ von James Cameron und vegan orientierte Spitzensportler wie Lewis Hamilton, Patrik Baboumian, Novak Djokovic und wie sie alle heißen. Gegen die Einstellung „mir schmeckt nur Fleisch“ helfen wohl nur immer bessere Fleischalternativen und kultiviertes Fleisch, vielleicht mit einem Pinguin-Känguru-Steak aus Zellen, neben dem das ewig gleiche Massentierhaltungsschnitzel alt aussieht, oder eben der erste Herzinfarkt.

6. Halten Sie Laborfleisch für einen geeigneten Lösungsansatz, um die globale Ernährungsproblematik zu lösen?

Veganer Burger: Fast kein Unterschied mehr. Foto: Impossible Foods

Laborfleisch ist ein total irreführender Begriff für kultiviertes Fleisch, das aus Zellen gezüchtet wird. Denn es wird sicher nicht in einem kleinen Reagenzgläschen im Labor hergestellt, sondern eher in großen Fleischbrauereien. Im Labor wird es nur erforscht und entwickelt, so wie jedes Joghurt und jede neue Biersorte auch. Und die Leute sagen ja auch nicht: „Treffen wir uns heute Abend auf ein Laborbier?“, nur weil das Bier im Labor entwickelt worden ist. Warum also kultiviertes Fleisch mit dem unsexy Begriff „Laborfleisch“ bestrafen? Aber jetzt zur eigentlichen Frage: Klar, das könnte ein wesentlicher Teil der Lösung sein. Echtes Fleisch, ohne Tiere töten zu müssen, weitaus effizienter, wassersparender, flächensparender produziert und mit weit besserer Klimabilanz als Fleisch von getöteten Tieren. Entscheidend wird sein, ob kultiviertes Fleisch zu einem konkurrenzfähigen Preis zu Fleisch aus industrieller Tierhaltung hergestellt werden kann, da die Technologie doch sehr komplex ist. Wenn das gelingt, dann hat es viele potentielle Marktvorteile, man kann komplett neue Variationen von Fleisch züchten, und auch die Inhaltsstoffe optimieren, fast sowas wie „gesundes Fleisch“ herstellen, mit weniger gesättigten Fettsäuren, wenig oder keinem Cholesterin, viel Omega-3-Fettäuren usw.

Um die dringend nötige Agrar- und Ernährungswende zu meistern, kommt einer Pflanzenart eine besondere Bedeutung zu: den Leguminosen.

7. Welche Eiweißquellen könnten unseren Bedarf in Zukunft decken?

Da gibt’s viele! Idealerweise lassen wir in Zukunft herkömmliche Tierprodukte weg. Dann bleiben von den klassischen pflanzlichen Produkten drei Gruppen: Erstens die Hülsenfrüchte, also Sojabohnen, Bohnen, Linsen, Erbsen, Kichererbsen, Süßlupinen, usw. Zweitens die unterschiedlichsten Getreideprodukte. Und drittens die verschiedenen Nüsse und Samen. Und aus Getreide oder Hülsenfrüchte kann man auch pflanzliche Alternativen zu Fleisch, Milch und Eiern herstellen als Proteinquelle (=Eiweißquelle). Sowas geht auch aus gewissen Schimmelpilzen, das ist eine weitere Option. Und dann kommt noch möglicherweise kultiviertes Fleisch aus gezüchteten Zellen dazu. Möglichkeiten gibt es genug!

8. Ist es möglich, diese nachhaltig und ökologisch zu erzeugen?

Wenn wir Tierprodukte weglassen und damit viel weniger Flächen brauchen, weil wir die Nahrungskette von den Pflanzen zum Menschen nicht mehr künstlich verlängern und ineffizient machen, dann haben wir alle Möglichkeiten. Soja z.B. kann man dann locker auch in Mitteleuropa in Hülle und Fülle recht ökologisch produzieren. Bei ein paar Nüssen müssen wir noch nachbessern, ich denke da an die Mandeln, die in Kalifornien Probleme im Bereich Bienen und Wasser hervorrufen. Oder Cashews, über die es immer noch Berichte gibt, dass es im Zusammenhang mit ihrer Verarbeitung in Vietnam zu Menschenrechtsverstößen kommt. Aber im Vergleich zu Tierprodukten sind alle diese pflanzlichen Proteinquellen trotzdem nachhaltiger, die meisten davon um ein Vielfaches.

9. Hätten wir COVID-19 in einer veganen Welt?

Sehr wahrscheinlich hätten wir COVID-19 in einer veganen Welt nicht. Außer man glaubt der Theorie mit dem Labor in Wuhan. Aber die gängigen Theorien zur Entstehung von COVID-19, also Übertragung durch Wildtierhandel und Wildtiermärkte, oder die Mutmaßung vom bekanntesten deutschen Virologen Christian Drosten, der meint, Marderhundfarmen könnten eine Rolle gespielt haben – all das gäbe es in einer veganen Welt natürlich nicht. Dass das Virus in einer veganen Welt trotzdem in dieser finalen Form entstanden und zudem auf den Menschen übergesprungen wäre, ist doch sehr unwahrscheinlich.

10. Der Mediziner und Wirtschaftssoziologe, Stefan Brunnhuber, meint, dass die Bereitschaft für eine Veränderung noch nie so groß war wie heute im Angesicht der Corona-Pandemie. Wie schätzen Sie dies ein? Ist Corona ein Wendepunkt für den Aufbruch in eine bessere Welt?

Das müssen wir jetzt alle in die Hand nehmen. Wir müssen die Medien pushen, das Bewusstsein über die Entstehung von Pandemien zu verbreiten. Denn bisher wird dort fast ausschließlich über die Symptome geredet, was man wo nicht darf oder wieder darf, welche Länder wieder bereist werden können, usw. Aber über die Ursachen von Pandemien wie COVID-19 wird viel zu wenig berichtet. Und die Politik müssen wir pushen, damit die Landwirtschaftspolitik komplett neu ausgerichtet wird. Gelingt uns das, steuern wir auf eine bessere Zukunft zu, andernfalls wohl auf die nächste Pandemie.

Das Interview führte Christina Ledermann

Dr. Kurt Schmidinger ist Lebensmittelwissenschaftler und Geophysiker. Er ist zudem Gründer des Projektes Future Food, das sich mit Alternativen zu Tierprodukten beschäftigt.