Nach dem lange erwarteten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 13. Juni 2019 dürfen 45 Millionen männliche Küken jährlich gleich nach dem Schlüpfen getötet werden, weil sie für die Brütereien „nutzlos“ sind. Das soll nach amtlicher Pressemitteilung „nur noch übergangsweise“ gelten, weil es mit dem anerkannten gesetzlichen Eigenwert der Tiere und dem Verfassungsrang des Tierschutzes nicht zu vereinbaren ist.
Kükenschreddern trotz Staatsziel Tierschutz
Vor 47 Jahren hat der Deutsche Bundestag einstimmig das Tierschutzgesetz im Sinne umfassenden Lebensschutzes beschlossen, das bereits „Leben und Wohlbefinden der Tiere“ zum Gesetzeszweck erklärte. Und 17 Jahre ist es her, dass der ethische Tierschutz durch eindringliches, zwölfjähriges Einwirken der Tierrechts- und Tierschutzbewegung in den Verfassungsrang heraufgestuft wurde. Das hätte sofort von allen Staatsorganen mit dem Nachdruck der Parteien und der Gesellschaft Geltung erlangen müssen. Welch ein abgründiges, erbärmliches Versagen zeigt sich hier für den Schutz derer, die sich selbst gegen die Arroganz der Macht des Menschen nicht wehren können. Wenigstens kommt es jetzt zu Musterprozessen, dies zu ändern.
Tierschutz wiegt schwerer als Ökonomie
Zwei Vorinstanzen der Verwaltungsgerichte hatten das behördliche Verbot der Kükentötung als unzulässig eingestuft, weil es wegen der wirtschaftlichen Interessen der Brütereien nicht ohne „vernünftigen Grund“ im Sinne des Tierschutzgesetzes (§ 1 Satz 2) erfolge. Insofern ist es ein beachtlicher Fortschritt, dass das Bundesverwaltungsgericht dem in letzter Instanz nicht folgte, sondern zusicherte: „Die Belange des Tierschutzes wiegen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe, aus Zuchtlinien mit hoher Legeleistung nur weibliche Küken zu erhalten …“ Dem steht in der Tat das Leben der Küken als Eigenwert entgegen, wie das Bundesverwaltungsgericht betonte.
Bei Kollision von Verfassungsgütern haben Tiere das Nachsehen
Inkonsequent und verfassungswidrig erscheint es aber, dass das jetzt ergangene Urteil dennoch das Rechts- und Verfassungsgut des ethischen Tierschutzes nicht unmittelbar zur Geltung gebracht hat. Bei der Kollision von Verfassungsgütern, hier des Tierschutzes mit den beruflichen und wirtschaftlichen Freiheiten der Betreiber von Brütereien, hätte nach ständiger Rechtsprechung nach den Maßstäben „praktischer Konkordanz“ ein möglichst schonender Ausgleich erfolgen müssen. Dabei anerkennt das Bundesverwaltungsgericht zwar den gesellschaftlichen Wertewandel, der zugunsten der Tiere zu beachten ist, jedoch hätte es den tieferen Zusammenhang mit der Würde des Menschen als Fundamentalnorm des Grundgesetzes beachten sollen, der historisch der Entstehung des Tierschutzgesetzes und des Verfassungsguts Tierschutz zugrunde liegt.
Verfassungswidrige Praxis „zulässig“
Nimmt man dann noch hinzu, dass die staatlichen Organe nahezu schon ein halbes Jahrhundert die Massentötung männlicher Küken hätten versagen müssen, dann hätte dem Bundesverwaltungsgericht klar sein müssen, dass nicht der geringste Grund bestand, die schreckliche rechts- und verfassungswidrige Praxis der fortgesetzten Massentötung männlicher Küken – noch – für „zulässig“ zu erklären. Dies ist und bleibt beschämend, weil es unsere unteilbare Menschlichkeit mit Tieren und deren Eigenwert, wenngleich ausdrücklich „übergangsweise“, missachtet.
Politik muss Staatsziel Tierschztz endlich umsetzen
Im Interesse der Tiere und des Rechts sind daher nun umso mehr die politischen Mandatsträger in Bund und Ländern daran zu messen, ob sie jetzt wenigstens die Umsetzung des Verfassungsranges Tierschutz zügig kurz fassen. Dabei muss der vorliegende Fall eine Mahnung an alle sein, den Kontrast zwischen der zentralen Leitidee des Schutzes der Tiere und seiner Realität in der Praxis mehr denn je aufzuarbeiten.
Zur Person
Dr. jur. Eisenhart von Loeper initiierte die Aufnahme des Tierschutzes in den Umweltartikel 20 a Grundgesetz. Damit wurde dem Tierschutz 2002 Verfassungsrang verliehen. Er ist seit 40 Jahren Gutachter und Kommentator des Tierschutzgesetzes, war langjähriger Vorsitzender des Bundesverbandes Menschen für Tierrechte sowie der Erna-Graff-Stiftung für Tierschutz. 2005 wurde er für sein tierschutzpolitisches Engagement mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet. 2007 hat der Bundesverband Menschen für Tierrechte Dr. von Loeper zum Ehrenmitglied auf Lebenszeit ernannt.