Allgemein Industrielle Tierhaltung

Die Kükentötung bleibt vorerst legal – aber sie ist nicht legitim

45 Mio. männliche Küken werden jedes Jahr aus rein wirtschaftlichen Gründen in Deutschland getötet. Foto: soylent network

Am 13. Juni 2019 urteilte das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG), dass das Töten 45 Mio. männlicher Küken direkt nach dem Schlüpfen vorerst noch rechtmäßig sein soll. Bis zur Einführung von Verfahren zur Geschlechts-Früherkennung im Ei dürften Brutbetriebe die männlichen Küken weiterhin direkt nach dem Schlüpfen töten. Nach fast 50 Jahren Tierschutzgesetz und 17 Jahren Staatsziel Tierschutz ist es aus ethischer Sicht unfassbar, dass das Gericht die Tötung von Millionen gesunder Hühnerküken als (noch) legal im Sinne des Tierschutzgesetzes ansieht. Doch es lohnt, sich die Urteilsbegründung genauer auszusehen. Denn das BVerwG hat deutlich differenzierter geurteilt als die Vorinstanzen. Im Gegensatz zu früheren Urteilen betonte das BVerwG die Bedeutung des Staatsziels Tierschutz und dass die wirtschaftlichen Interessen der Brütereien allein kein vernünftiger Grund im Sinne des Tierschutzgesetzes sind. Daraus ergibt sich eine klare Verpflichtung für die Politik, die skandalöse Tötungspraxis endlich zu beenden.

Töten übergangsweise zulässig
Nach dem BVerwG beruht das Töten der männlichen Küken vor dem Hintergrund des Staatsziels Tierschutz und der veränderten Wertvorstellungen nicht mehr auf einem vernünftigen Grund. Die Belange des Tierschutzes wögen schwerer als das wirtschaftliche Interesse der Brutbetriebe. Die bisherige Praxis sei allerdings jahrzehntelang hingenommen worden. Das Tierschutzgesetz verbiete zwar das Töten von Tieren „ohne vernünftigen Grund“, doch vor diesem Hintergrund könne von den Brutbetrieben eine sofortige Umstellung ihrer Betriebsweise nicht verlangt werden. Deswegen sei das Töten tierschutzrechtlich nur noch übergangsweise zulässig, bis Alternativen zur Verfügung stünden.

Wirtschaftlliche Interessen gelten nicht mehr als „vernünftiger Grund“
Das BVerwG ist im Gegensatz zum Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster, das im Mai 2016 im Ergebnis ähnlich entschied, jedoch zu einer weit differenzierten Urteilsbegründung gelangt. Zum einen bezieht das BVerwG die Bedeutung des Staatsziel Tierschutz mit ein. Abwägungen, die vor Inkrafttreten der Staatszielbestimmung zu Lasten des Tierschutzes vorgenommen wurden, müssen demnach heute ein anders Ergebnis haben. Zudem hat sich das BVerwG erstmals mit den konkreten Anforderungen an einen „vernünftigen Grund“ im Sinne des Tierschutzgesetzes auseinandergesetzt. Der „vernünftige Grund“ gilt als unbestimmter Rechtsbegriff und führte bisher dazu, dass Tiernutzer diese unkonkrete Formulierung in ihrem Sinne auslegten und auf diese Weise unsägliches Tierleid und Tiertötungen rechtfertigten. Dies ist nach der Entscheidung des BVerwG nun nicht mehr möglich. Wirtschaftliche Kriterien reichen grundsätzlich nicht mehr aus, um als „vernünftiger Grund“ zu gelten.

Bis endlich die lange angekündigten Verfahren zur Geschlechtsbestimmung praxisreif sind, geht die Massentötung weiter. Foto: soylent network

Lange angekündigt: Neue Verfahren
Der ehemalige Bundeslandwirtschaftsminister Christian Schmidt (CSU) hatte schon 2015 angekündigt, das Kükenschreddern bis spätestens 2017 beenden zu wollen. Doch bis heute sind die versprochenen Verfahren zur Geschlechts-Früherkennung im Ei nicht praxisreif, was bedeutet, dass die Massentötung erst einmal weitergeht. Ende 2018 stellte Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) ein neues Verfahren vor, das mithilfe eines Lasers das Geschlecht im Ei bestimmen soll. Dieses soll ab 2020 einsatzbereit sein.

Regierung muss Kükentöten bis 2020 beenden
Wenn es nach Klöckner geht, darf die Kükentötung solange weitergehen, bis ein Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei praxisreif ist. Diese Hinhaltetaktik ist mit dem Urteil des BVerwG Geschichte. Die Bundesregierung hat im Koalitionsvertrag vereinbart, das Kükentöten in 2020 zu verbieten. Nach dem Urteil muss die Groko diese Ankündigung nun auch umsetzen und zwar nicht erst, wenn die Verfahren zur Geschlechtsbestimmung im Ei wirtschaftlich oder gar kostenneutral sind, sondern schon dann, wenn auch nur ein einziges dieser Verfahren in den Betrieben eingerichtet werden kann. Dies gilt auch, wenn für dies für die Brütereien mit  Mehraufwendungen verbunden sein. Wenn der Ausstieg nach mehreren Verschiebungen 2020 immer noch nicht erfolgt, kann sich Klöckner nicht mehr auf den vernünftigen Grund berufen. Die Landwirtschaftsministerin ist gut beraten, die Brütereien endlich in die Pflicht zu nehmen. Sie könnte sie beispielsweise verpflichten, in die Technik zur Geschlechtsbestimmung im Ei zu investieren.

Fleischeslust ein „vernünftiger Grund“?
Die Geschlechtsbestimmung im Ei könnte zwar die skandalöse Kükentötung beenden, doch auch dies löst nicht das grundsätzliche Problem der Eierproduktion: Wenn die Legeleistung der Hennen nach circa einem Jahr abnimmt, weil sie durch das ständige Eierlegen völlig ausgezehrt sind, werden auch sie als Suppenhühner geschlachtet. So sehr das Ergebnis des Urteil schockiert, so drängt sich auch der scheinbar zynische Gedanke auf, dass es für einen Hahn auch nicht erstrebenswert sein kann, nach mehreren Wochen Turbomästung bei vollem Bewusstsein kopfüber am Schlachtband zu landen und mit etwas Pech ohne Betäubung den Kopf abgeschnitten zu bekommen. Denn genau das wäre die Lebensaussicht eines männlichen Kükens. Tatsächlich stellt sich die radikale Frage nach dem vernünftigen Grund im Sinne der Ethik viel früher und nicht erst beim Schreddern, nämlich: Ist es ein vernünftiger Grund qualgezüchtete Tiere unter kastastrophalen Bedingungen in Massen zu produzieren, nur weil der Mensch das Bedürfnis hat Fleisch zu essen? Es bleibt die Erkenntnis, dass es der beste Tierschutz ist, seinen Speiseplan ganz ohne Produkte vom Tier auszurichten. Denn es gibt keinen Eier- und keinen Fleischkonsum ohne Tierleid.