Der Bundesverband sammelt derzeit Unterschriften für die Entwicklung weiterer tierversuchsfreier Verfahren für das Faltenmittel Botox. Mit den Unterschriften wollen wir die Hersteller auffordern, auch für die verbliebenen Tests tierleidfreie Verfahren zu entwickeln und sich verstärkt für deren außereuropäische Anerkennung einzusetzen.
Der von Merz entwickelte und 2015 zugelassene in vitro-Test mit menschlichen Zellen für die Chargenprüfungen von Botoxprodukten ist ein großer Erfolg. Der Test löst aber nicht alle Tierversuche ab, rund 15 Prozent der qualvollen LD-50-Versuche an der Maus bleiben bestehen. Dabei wird Mäusen das Gift in verschiedenen Konzentrationen in die Bauchhöhle gespritzt und getestet, bei welcher Konzentration die Hälfte der Tiere durch Atemlähmung erstickt.
Neue mediznische Anwendungen bedingen mehr Tierversuche
Der LD50-Test ist ein gesetzlich vorgeschriebener Tierversuch für Bulk-Tests [1], Qualitätsüberprüfungen des Zell-Tests [2] und die außereuropäische Vermarktung der Botox-Produkte. Hinzu kommt, dass immer wieder neue medizinische Anwendungen gefunden werden, wodurch der Bedarf an Tests und somit auch an Tieren steigt. Im Zuge unserer Kampagne möchten wir hier in einer 6-teiligen Info-Serie alle zwei Wochen eine solche medizinische Anwendung vorstellen.
1. Botox gegen Hyperhidrose (übermäßiges Schwitzen)
Bei der Hyperhidrose (übermäßiges Schwitzen) geht die produzierte Schweißmenge über das für die Wärmesteuerung benötigte Maß hinaus. Das kann an den Achseln, aber auch an Handflächen und Fußsohlen vorkommen. In Deutschland leiden ca. 1-2% der Menschen darunter [3]. Hyperhidrose bedeutet so für Betroffene beispielsweise ein ständig schweißnass wirkendes Gesicht oder auch nasse Hände und komplett durchschwitzte Hemden. Die Patienten leiden dadurch häufig unter psychosozialen Problemen, das berufliche und private Leben kann massiv eingeschränkt sein. Wenn Antitranspirantien oder Gleichstromtherapie nicht helfen, werden Botox-Injektionen eingesetzt. Botox blockiert den Botenstoff Acetylcholin an den Nervenenden und hemmt damit nachweislich die Aktivität der Schweißdrüsen. Das Neurotoxin erhöht so die Lebensqualität, wobei keine schwerwiegenden Nebenwirkungen auftreten [4].
2. Botox bei vermehrtem Speichelfluss
Sialorrhö, der Abfluss von Speichel aus dem Mund, ist ein häufiges Symptom bei neurologischen Erkrankungen wie Morbus Parkinson, amyotropher Lateralsklerose (ALS) oder Kinderlähmung. 10–37 Prozent der Patienten mit Kinderlähmung, bis zu 80 Prozent der Parkinson-Patienten und etwa 20 Prozent der ALS-Patienten leiden an chronischer Sialorrhö [5]. Sie kommt auch als sehr häufige Nebenwirkung von Neuroleptika vor [6], einer Gruppe von Psychopharmaka, die Erregungszustände dämpfen sollen. Medizinische Gefahren sind häufiges Verschlucken, was zur lebensgefährlichen Lungenentzündung oder sogar zum Ersticken führen kann. Mehr als die Hälfte aller ALS-Patienten sterben an den Folgen der Sialorrhö [7]. Zudem sind die psychosozialen Auswirkungen gravierend, Artikulation und Nahrungsaufnahme können sehr eingeschränkt sein.
Speichelreduktion wird mit z.B. Anticholinergika behandelt, deren Wirkung gering ist und teils Nebenwirkungen auftreten können. Botox-Injektionen haben sich dagegen als reversibel, effektiv, langanhaltend und nebenwirkungsarm gezeigt. Es hemmt lokal die Acetylcholin-Ausschüttung der Nervenenden an den Speicheldrüsen und reduziert somit deren Aktivierung.
3. Botox als Therapeutikum bei neurologischen Bewegungsstörungen
Neurologische Bewegungsstörungen, sogenannte Dystonien sind ein weiteres Anwendungsgebiet von Botox. Dabei führen unwillkürliche Kontraktionen der quergestreiften Muskulatur zu krampfhaften Bewegungen oder abnormen Fehlhaltungen einzelner Körperregionen (fokal) bzw. des gesamten Körpers (generalisiert). Eine Dystonie kann in jedem Lebensalter auftreten und betrifft in Deutschland ca. 30.000 Menschen. Häufig hat sie keine erkennbare Ursache und ist nicht heilbar. Der Schiefhals, die dauernde Fehlstellung des Halses, ist die häufigste Form der fokalen Dystonie. Durch abnormale Kopfstellungen und -bewegungen ist der Leidensdruck für die Betroffenen sehr hoch. Die zweithäufigste Form, der Lidkrampf, äußert sich durch unwillkürliches Zusammenkneifen der Augen. Auch ein vollständiger Verschluss der Augen über mehrere Stunden ist möglich. Die dritte Form sind Mund-, Zungen- und Schlund-Verkrampfungen. Die Patienten können Dinge verschlucken, haben starke Schmerzen, schwere Behinderungen beim Essen, Trinken und Sprechen sowie bizarre Gesichtsausdrücke. Die generalisierte Dystonie stellt mit z.T. erheblichen muskuloskelettalen Veränderungen, häufigen Schmerzen und einer Pflegebedürftigkeit die schwerste Form der Dystonie dar.
Die Therapie beschränkt sich darauf, die Symptome und Lebensqualität zu verbessern. Es kommen krampflösende oder beruhigende Medikamente zum Einsatz, die aber oft nicht ausreichend wirken, zu Nebenwirkungen oder schneller Toleranzbildung (Suchtgefahr) führen. Botox-Injektionen hemmen die Freisetzung des Nervenbotenstoffs Acetylcholin und haben die Therapie von fokalen Dystonien revolutioniert. Sie werden seit vielen Jahren sehr erfolgreich eingesetzt und gelten als Mittel erster Wahl. Sie führen bei 80 Prozent der Patienten mit Schiefhals zur Linderung der Symptome [8]. Nachweislich ermöglicht Botox den Patienten für einige Monate ein normales Leben [9], was die Botox-Produktion auf absehbare Zeit unersetzlich macht.
4. Botox zur Behandlung einer überaktiven Blase
Bei einer überaktiven Blase (overactive bladder, OAB) leidet der Mensch unter häufigem Harndrang, der ihn zu häufigem Wasserlassen bei Tag und Nacht zwingt [10]. Ursachen sind u.a. neurologische Erkrankungen wie zum Beispiel Morbus Parkinson, Multiple Sklerose, Querschnittslähmungen, aber auch Diabetes mellitus, Alterungsprozesse und idiopathische (in ihrer Ursache unbekannte) Prozesse. Bei OAB werden vermehrt und unkoordiniert Nervenimpulse auf den Harnblasenmuskel übertragen, die eine unkontrollierte und häufige Muskelkontraktion der Harnblase auslösen. 17 Prozent der Bevölkerung leidet an diesem Syndrom, das mit dem Alter zunimmt. Die Minderung der Lebensqualität ist schätzungsweise stärker als bei Diabetes mellitus [11], denn der häufige bzw. nicht kontrollierbare Harndrang verursacht körperliche, psychische sowie starke soziale Beeinträchtigungen.
Verhaltenstherapien und medikamentöse Behandlungen, die die Wirkung des Nervenbotenstoffs Acetylcholin im Nervensystem unterdrücken (Anticholinergika) wirken nicht ausreichend und die Medikamente können zudem Nebenwirkungen verursachen. Patienten, denen solche Therapien nicht helfen oder die unter Nebenwirkungen leiden, können unter bestimmten Umständen Botox-Injektionen verabreicht werden. Dabei blockiert das Botulinumtoxin die vermehrte Signalübertragung von Nervenzellen, wodurch es die Blasenkontraktilität sowie das sensorische Drangbedürfnis und die Blasenschmerzen vermindert [11]. Eine minimal-invasive Botoxbehandlung wird als hoch-effizient sowie langanhaltend eingeschätzt und birgt nahezu keine relevanten Nebenwirkungen [12, 13].
Wegen der Häufigkeit und der zunehmenden Alterung der Bevölkerung wird ohne vollständige Ersatzmethoden auch in diesem neuen Anwendungsfeld der Bedarf an Botox und folglich an Tierversuchen steigen.
5. Botoxbehandlung nach Schlaganfall
Mit mehr als 200.000 Betroffenen gehört der Schlaganfall zu den häufigsten Invaliditäts- und Todesursachen in den Industrienationen.
Nach einem Schlaganfall kann es zu einer Schädigung von Hirn- und Rückenmark kommen, die zu einer Lähmung führt. 10-13 Prozent der Patienten leiden unter einer spastischen Bewegungsstörung, die Betroffenen können häufig nicht mehr gehen und sind an den Rollstuhl gefesselt.
Als Therapie gegen solche spastischen Muskelverkrampfungen wird heutzutage häufig das Nervengift Botox eingesetzt [14]. Es löst die dauerhafte Anspannung durch Hemmung der Signalübertragung von Nerven auf den Muskel [15]. Die Muskelentspannung hält ungefähr drei bis vier Monate an. Laut einer aktuellen Studie wurden wiederholte Behandlungen über ein Jahr gut toleriert und erhöhten die Geh-Geschwindigkeit und die Wahrscheinlichkeit der Patienten, an Trainings teilzunehmen [16]. Werden keine Ersatzmethoden entwickelt und zugelassen, müssen somit mehr Mäuse in den verbleibenden LD-50-Tests leiden.
6. Medizinische Botoxanwendung zur Behandlung von chronischer Migräne
Chronische Migräne (CM) betrifft bis zu 2,2 Prozent der deutschen Bevölkerung und schränkt die Lebensqualität und Leistungsfähigkeit der Betroffenen stark ein [17,18,19]. Bei derartiger Migräne leiden die Patienten an z.T. pulsierenden starken Kopfschmerzen, Licht- und Geräuschempfindlichkeit oder Übelkeit und möglicher Verstärkung bei körperlicher Bewegung. Behandelt wird mit unspezifischen prophylaktischen Medikamenten, aber auch mit Botox-Injektionen des Typs A, wenn die Patienten auf diese Medikamente nicht ausreichend ansprechen [20]. Nach einer Injektion [18] in bestimmte Kopf- und Halsbereiche lähmt Botox die Muskeln, indem es verhindert, dass der Botenstoff Acetylcholin freigesetzt wird, der normalerweise die Muskeln aktiviert. Die Wirkung hält ungefähr drei Monate an.
In den Zulassungsstudien bewies Botox Wirksamkeit, eine Verbesserung der Lebensqualität, Sicherheit und Verträglichkeit in Erwachsenen mit CM für bis zu 52 Wochen. Nach neuesten Ergebnissen stellt sich Botox auch in der Langzeitbehandlung von CM über 3 Jahre, einschließlich der durch Medikamentenübergebrauch bedingten Form, als wirksam und sicher heraus [20].
Mit der erst neulich bestätigten erfolgreichen Anwendung von Botox für diese weitverbreitete Erkrankung wird der Bedarf an Botox, inklusive der nötigen Sicherheitstests in dessen Herstellung steigen. Es werden also auch in Zukunft nicht weniger Mäuse für die Behandlung von Krankheiten leiden müssen, sofern nicht tierfreie Methoden entwickelt und anerkannt werden.
Wie in unserer Serie gezeigt, gibt es zahlreiche Indikationen für Botox im medizinischen Bereich, darunter zugelassene, sowie „Off-Label“-Anwendungen und die Liste wächst stetig weiter. Der Ruf des bloßen Faltenkillers ist veraltet. Neurologen, Urologen, Haut- und HNO-Ärzte nutzen es bei vielen chronischen Leiden und schwerwiegenden Erkrankungen. Überall, wo es im Wesentlichen zu einer gestörten Reizübertragung kommt, ist Botox denkbar, sogar bei Zähneknirschen und Stimmproblemen wird es eingesetzt. Der große Anwendungsbereich ist lukrativ für Pharmafirmen und es gibt immer weitere Studien bei Volksleiden wie z.B. Heuschnupfen oder Spannungskopfschmerzen. Die Nachfrage am Arzneimittel Botulinumtoxin wird daher weiter steigen.
Mitmachen: Fehlende tierversuchsfreie Botox-Tests einfordern!
Wir sind mit dem Botox-Hersteller Merz in Kontakt. In Gesprächen hat das Unternehmen sein Engagement zugesagt, um auch für die verbleibenden behördlich geforderten Tests tierleidfreie Verfahren zu entwickeln. Gemeinsam wollen wir Merz beim Wort nehmen und die Unterschriften unserer Unterstützer nutzen, um mit Nachdruck die noch fehlenden Verfahren und Verhandlungen mit den außereuropäischen Regulationsbehörden einfordern.
Hier geht es zur Unterschriften-Aktion, helfen Sie mit!
Zusammen mit Ihren Unterschriften fordern wir die Botox-Hersteller auf, die noch bestehenden LD50-Versuche, welche zu den schwerbelastenden Tierversuchen gehören, zu ersetzen. Ein nächster und zeitnah umsetzbarer Schritt, auf den wir unter anderem drängen, ist die weltweite Anerkennung der tierleidfreien Test-Alternativen.
[1] In sogenannten Bulktests an der Maus wird der in der entsprechenden Formulierung gelöste Wirkstoff zur Abfüllung bei der Herstellung des Fertigprodukts überprüft. Die Ersatzverfahren dürfen dagegen nur für die Chargenprüfung genutzt werden, um Stabilität und Konzentration in homöopathisch kleinen Dosen zu testen.
[2] In den behördlich vorgeschriebenen Qualitätsprüfungen wird in regelmäßigen Abständen der Zelltest mit einem Tierversuch auf Qualität und Aussagekraft hin überprüft.
[3] https://www.drbresser.de/hautkrankheiten-und-mehr/schwitzen-hyperhidrosis/
[4] https://www.igel-monitor.de/fileadmin/user_upload/2017_10_17_IGeL_Evidenz_ausfuhrlich_Botox_final.pdf
[5] Krause, D.E., Boetzel, K., Chaux, R.D., & Gürkov, R. (2008). Lokale Botulinumtoxin-A-Therapie bei chronischer Sialorrhö. HNO, 56, 941-946.
[6] Verma, R., & Anand, K.S. (2017). Botulinum toxin: a novel therapy for clozapine-induced sialorrhoea. Psychopharmacology, 235, 369-371. https://link.springer.com/article/10.1007%2Fs00213-017-4795-2
[7] Professor Dr. med. Baumann, Direktor der Klinik und Poliklinik für Strahlentherapie und Radioonkologie am Universitätsklinikum Dresden und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Radioonkologie (DEGRO) in einer Pressemitteilung des (idw). https://idw-online.de/de/news587455
[8] https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/neurologie/erkrankungen/dystonien/therapie/
[9] Eine neue Studie beweist die Verbesserung der allgemeinen sowie krankheitsspezifischen Lebensqualität bei zervikaler Dystonie: Weiss, D., Hieber, L., Sturm, J., Börtlein, A., Mayr, I., Appy, M., … & Wächter, T. (2017). Botulinumtoxin improves both generic and Disease-specific Quality of life in cervical Dystonia. Frontiers in neurology, 8, 561.
[10] International Continence Society, https://www.ics.org/terminology/23
[11] Scheiner, David; Perucchini, Daniele; Fink, Daniel; Betschart, Cornelia (2016) „Botox für die Blase Posted at the Zurich Open Repository and Archive, University of Zurich, ZORA, URL: https://doi.org/10.5167/uzh-135370
[12] Prof. Klaus-Peter Jünemann, Vorsitzender der Deutschen Kontinenz Gesellschaft in „Botox für die neurogene und die überaktive Blase“, UroForum 6/2012, https://www.uksh.de/uksh_media/Dateien_Kliniken_Institute%2B/Kiel%2BCampuszentrum/Urologie_Kiel/Dokumente/Artikel/2012/1212_Juenemann_Beitrag_UroForum_0612-p-119050.pdf
[13] https://www.aerztezeitung.de/medizin/krankheiten/urologische-krankheiten/harninkontinenz/article/944441/ueberaktive-blase-injektion-toxin-entspannt-blasendetrusor.html
[14] http://rehanews24.de/botox-gegen-spastik-wie-das-nervengift-schlaganfallpatienten-helfen-kann/
[15] https://www.myhandicap.de/gesundheit/koerperliche-behinderung/laehmung/botox-bei-spastik/
[16] Gracies, J. M., Esquenazi, A., Brashear, A., Banach, M., Kocer, S., Jech, R., … & Ilkowski, J. (2017). Efficacy and safety of abobotulinumtoxinA in spastic lower limb Randomized trial and extension. Neurology, 10-1212.“
[17] Headache Classification Committee of the International Headache Society (IHS). The International Classification of Headache Disorders, 3rd edition (beta version). Cephalalgia, 2013; 33: 629–808.
[18] Natoli JL, Manack A, Dean B, et al. Global prevalence of chronic migraine: a systematic review. Cephalalgia 2010; 30: 599–609.
[19] Steiner TJ, Birbeck GL, Jensen RH, et al. Headache disorders are third cause of disability worldwide. J Headache Pain 2015; 16: 58.
[20] Andreoua AP, Trimbolia M, Al-Kaisya A, et al. Prospective real-world analysis of OnabotulinumtoxinA in chronic migraine post-National Institute for Health and Care Excellence UK technology appraisal. European Journal of Neurology 2018, 25: 1069– 1075, e83