Fische

Ein neues Bild vom Fisch entsteht!

Professor Helmut Segner, Leiter des Zentrums für Fisch- und Wildtiermedizin der Universität Bern, und Markus Wild, Professor für theoretische Philosophie an der Universität Basel, haben intensiv zum Thema Schmerzempfinden bei Fischen geforscht. Wir sprachen mit ihnen über den Fisch aus biologischer und philosophischer Sicht, unseren Umgang mit ihm und wie sich ihr Bild von dem vermeintlich simplen Lebewesen im Laufe ihrer Forschungsarbeiten verändert hat.

Professor Segner, Professor Wild, wie kam es dazu, dass Sie sich in Ihren Forschungen den Fischen zuwandten?
Prof. Helmut Segner : In meinem Biologiestudium hat mich die Frage interessiert, wie sich Organismen mit ihrer Umwelt auseinandersetzen, wie sie beispielsweise selbst in extremen Habitaten dauerhaft überleben und sich reproduzieren. Zur Untersuchung solcher Fragestellungen sind Fische ideal: Sie besiedeln eine extreme Vielfalt von Habitaten, und sie weisen eine unglaubliche Diversität von Lebensformen und Umweltanpassungen auf. Je länger ich mit dieser Tiergruppe arbeite, desto mehr fasziniert sie mich.

Prof. Markus Wild : Ich muss zugeben, dass ich anfangs recht skeptisch war, als ich 2010 die Anfrage der EKAH* erhielt, ob ich ein Gutachten über Schmerzen bei Fischen erarbeiten möchte. Als Philosoph hat man eine Neigung zu Tieren, die als besonders intelligent gelten, wie Schimpansen, Raben, Delfine, Papageien und Hunde. Mein Bild des Fisches war damals das einer eher simplen Kreatur. Durch einen Zufall begegnete ich auf einer Konferenz dem Biologen Redouan Bshari (Universität Neuchâtel), der die Kooperation zwischen Tieren erforscht. Er zeigte mir ein Video, das die Kooperation zwischen einem Zackenbarsch und einer Muräne im Roten Meer zeigte. Es war absolut faszinierend für mich zu sehen, wie kommunikativ, vorausplanend und flexibel sich der Zackenbarsch verhält. Mir wurde sofort klar, dass ich ein ganz falsches Bild vom Fisch hatte – und das wollte ich bei mir und bei anderen ändern.

Professor Segner, Sie haben sich in Ihrer Studie „Fish Nociception and pain – A biological perspective“ mit den kognitiven Fähigkeiten von Fischen und ihrem Schmerzempfinden beschäftigt. Wie sieht das bei den Fischen aus – empfinden sie Schmerzen und Leid?
Prof. Helmut Segner : Wir können das nur indirekt ableiten. Das ist genau das Problem der Diskussion zum Schmerzempfinden von Tieren. Einen Menschen kann ich fragen und seine Reaktionen untersuchen. Bei einem Tier kann ich letztlich nur aus dem Vorhandensein oder Fehlen bestimmter Strukturen sowie aus dem Verhalten schließen, ob es eine schmerzähnliche Empfindung wahrnimmt. Aber das sind eben abgeleitete Interpretationen und als solche fast immer auch anders interpretierbar. Beim Schmerz muss man zwei Dinge klar unterschieden: zum einen die reine sensorische Registration eines Schmerzreizes und die entsprechende Reaktion darauf. Die Reizregistration erfolgt durch spezialisierte Schmerzrezeptoren (Nozizeptoren), die phylogenetisch sehr alt sind und in nahezu allen Tiergruppen vorkommen. Bei Fischen hat man funktionelle Nozizeptoren erstmalig im Jahr 2003 – also recht spät – nachgewiesen. Aber: Die Existenz von Nozizeptoren allein reicht nicht aus, um Schmerz als Gefühl wahrzunehmen. Dazu braucht es eine zentralnervöse, kognitive Verarbeitung. Dort erst findet die „emotionale Einfärbung“ statt, die uns den Schmerzreiz als unangenehm empfinden lässt. Wir besitzen im Gehirn eine sogenannte Schmerzmatrix, die aus der Großhirnrinde und einer Reihe weiterer, phylogenetisch älterer Hirnteile wie z.B. dem Thalamus besteht. Der Fisch hat keine Großhirnrinde, aber er hat viele der älteren Gehirnbereiche. Die Frage ist nun: Reicht das aus, um eine einfache Form von Emotionen wahrzunehmen? Genau hier ist die Kontroverse um das Schmerzempfinden von Fischen angesiedelt. Klar ist, dass die kognitiven Leistungen von Fischen sehr viel weiterentwickelt sind, als man das noch bis vor kurzem dachte – und die kognitive Leistungsfähigkeit ist eine wesentliche Voraussetzung für die Wahrnehmung von Schmerz.

Müsste die Tatsache, dass Fische höchstwahrscheinlich unter Schmerzen leiden, nicht deutliche Konsequenzen für den Umgang mit ihnen haben, sei es beim Sportangeln, beim industriellen Fischfang oder im Tierversuch?
Prof. Markus Wild : Ja, dieser Ansicht bin ich durchaus. Tierschutzgesetzgebungen besagen, dass man einem Tier ohne guten Grund keine Schmerzen und keinen Stress verursachen darf. Wenn man Fische aber mit Angeln, Leinen oder Netzen aus dem Wasser zieht, führt das zu Schmerz und Stress. Freizeitspaß, finanzieller Gewinn und maskuline Fantasien der Naturnähe unter High-Tech-Bedingungen sind nun sicher keine guten, sondern eher frivole Gründe für die Verbreitung von Schmerz und Schreck. Bei der Forschung liegt die Sache ein wenig anders, weil wir da überlegen können, ob nicht gute Gründe vorliegen für das Zufügen von Schmerz und Stress. Allerdings will ich damit Tierversuche mit Fischen keineswegs geradeheraus verteidigen, sie muss kritisch betrachtet werden, insbesondere auch innerhalb der scientific community.

Prof. Helmut Segner : Beim derzeitigen Wissensstand ist die Schmerzwahrnehmung bei Fischen keine ›Tatsache‹. Ich persönlich interpretiere die vorhandenen wissenschaftlichen Befunde als ausreichend, um eine Form von Schmerzempfinden bei Fischen zu belegen. Aber es gibt eine Reihe von Wissenschaftlern, die die Datenlage als nicht hinreichend betrachten.

In der deutschen Tierschutzgesetzgebung steht, dass ein geangelter Fisch zu betäuben ist. Für den kommerziellen Fischfang, dem die meisten Tiere zum Opfer fallen, gilt dies nicht. Wie beurteilen Sie diese Diskrepanz in der Gesetzgebung?
Prof. Helmut Segner : Vom Tierschutzgedanken her ist es nicht nachvollziehbar. Aber wenn es um die Nutzung von Tieren geht, kommt der Tierschutz auf Grund von „Sachzwängen“ oft erst an zweiter Stelle. Bei der Hochseefischerei stellt sich schlicht die Frage: Wie soll das technisch funktionieren, dass Fische, die z.B. am Meeresgrund mit dem Netz gefischt werden, vor dem Töten betäubt werden?

Prof. Markus Wild : Ich muss gestehen, dass mich diese pragmatischen Gründe immer mehr irritieren, weil sie sogar unter gesetzlichen Normen erfolgreich geltend gemacht werden. So argumentieren Schweinezüchter in der Schweiz, dass die Narkose vor der Ferkelkastration aus finanziellen Gründen nicht immer durchführbar sei, obwohl gemäß Tierschutzverordnung die Kastration von Ferkeln seit 2010 nur noch mit Schmerzausschaltung erlaubt ist.

Professor Wild, gesellschaftliche Veränderungen im Umgang mit Tieren sind dringend geboten – so sehen es auch Philosophen und Ethiker. Bislang bezog sich diese Forderung in erster Linie auf den Umgang mit Säugetieren und Vögeln. Warum hat es der Fisch so schwer?
Prof. Markus Wild : Fische leben in einem ganz anderen Medium als wir. Wir nehmen sie kaum als Individuen, sondern eher als Masse oder Schwarm wahr. Und wir meinen, dass Fische kalt und nicht besonders schlau sind. Nach der alten Auffassung ist der Fisch ein kleiner Automat. Diese Einstellungen haben lange Zeit bewirkt, dass wir Fische als ganz andere Wesen wahrnehmen. In den letzten Jahren hat ein Umdenken stattgefunden, ein neues Bild vom Fisch entsteht. Das hat mindestens drei Gründe: Erstens wird uns bewusst, dass die Meere durch uns überfischt und durch den Fischfang empfindlich gestört werden. Zweitens hat die Forschung deutlich gemacht, dass Fische erstaunlich lernfähig, clever und sozial sind, dass sie Empfindungen wie Schmerz oder Angst haben. Drittens hat uns eine ganze Reihe von Bildern und Filmen die Welt, das Leben und die stumme Pracht der Fische vor Augen geführt. Allerdings muss man auch betonen, dass dieses neue Bild vom Fisch gerade in den beiden Bereichen Intensivhaltung und Tierversuche zu neuen und problematischen Entwicklungen geführt hat. Die anhaltende Nachfrage nach Fisch führt zum sogenannten Aqua-Farming, der Massenhaltung von Fischen in geschlossenen Systemen. Im Bereich der Tierversuche entdeckt man seit einigen Jahren den Zebrafisch, der sich aufgrund seiner Eigenschaften als Modellorganismus in Genetik, Entwicklungsbiologie und Toxikologie eignet. Allerdings – so mein subjektiver Eindruck – ist das Bewusstsein der Forscher, dass man es hier mit einem Lebewesen zu tun hat, noch geringer ausgeprägt als im Fall von Ratten und Mäusen.

Professor Wild, einige tierethische Positionen machen den Anspruch auf elementare Rechte an den kognitiven Fähigkeiten der Tiere fest. Reicht nicht die Leidensfähigkeit als Argument, um den Tieren ein Recht auf Leben, auf Freiheit und auf Unversehrtheit zuzugestehen?
Prof. Markus Wild : Die drei elementaren Rechte, die Sie nennen, lassen sich nicht alle so direkt mit der Leidensfähigkeit verbinden. Es leuchtet ein, dass man einem Tier, das Schmerzen empfinden kann, ohne guten Grund kein Leid zufügen sollte. Viele Menschen sind aber der Auffassung, dass das schmerzlose Töten kein Problem darstelle, weil man dem Tier damit ja kein Leid zufüge. Deshalb haben einige Philosophen argumentiert, dass ein Lebensrecht nur solchen Wesen zukommt, die lieber leben als nicht leben wollen. Um diese Präferenz aber haben zu können, muss man so etwas wie eine Vorstellung der Zukunft und des eigenen Lebens haben. Das setzt anspruchsvolle kognitive Fähigkeiten voraus. Ich selber vertrete diese Auffassung nicht, sondern meine, dass empfindungsfähige Lebewesen ein Lebensrecht haben. Erstens sollte man darauf achten, dass es bei Lebewesen, die wir um ihrer selbst willen achten sollten, nicht nur auf die Leidensfähigkeit ankommt, sondern ganz allgemein darauf, positive und negative Empfindungen haben zu können, also Freude und Schmerz. Dann können wir überlegen, warum wir es schlimm finden, wenn man ein solches Wesen quält. Wenn wir ein gesundes Tier töten, fügen wir ihm einen irreversiblen Schaden zu: Wir nehmen ihm nämlich die Chance auf positive Empfindungen. Deshalb meine ich, dass wir nicht nur das Quälen von empfindungsfähigen Tieren, sondern konsequenterweise auch die Tötung von solchen Tieren als verwerflich beurteilen sollten.

Hat sich Ihr ›Verhältnis‹ zu Fischen allgemein im Laufe Ihrer Forschungen verändert?
Prof. Helmut Segner : Ja, mit Sicherheit. Vor meiner Dissertation, während der ich zum ersten Mal mit Fischen gearbeitet habe, waren Fische für mich Lebewesen, zu denen ich keine Beziehung hatte. Aber je länger ich mit ihnen arbeite, desto mehr sehe ich, welch differenziertes Verhalten Fische zeigen können, wie sensibel sie ihre Umwelt wahrnehmen, wie gut sie lernen, oder über welch großartige Anpassungsfähigkeit sie verfügen. In den letzten Jahren habe ich z. B. einen Kollegen kennen gelernt, der mit Unterwasserkameras Fische beim Sprechen aufnimmt – von wegen „stumm wie ein Fisch im Wasser“. Diese Tiere haben eine erstaunliche Bandbreite von Lebensäußerungen, was mich immer wieder staunen lässt und fasziniert. Daher habe ich – je länger ich mit Fischen arbeite – umso mehr Respekt vor ihnen.

Prof. Markus Wild : Tiere sind für mich eine wichtige Quelle intellektueller und emotionaler Freude. Erhebt sich morgens überraschend ein Reiher aus dem nebelkalten Bach, ist mein Tag schon fast geglückt. Die größte Veränderung ist aber sicher die Tierethik, die anfänglich nicht im Fokus meiner Arbeit stand. Zuerst vollzog ich privat eine persönliche Umstellung in meinen Ess- und Kleidungsgewohnheiten. Nachdem ich mir das neue Bild des Fisches erarbeitet hatte, war für mich klar: Der Fisch gehört ins freie Wasser und weder in die Fischzucht noch auf meinen Teller. In den letzten Jahren versuche ich zudem öffentlich, an einer gesellschaftlichen Umstellung mit den Mitteln der Information und der Kritik mitzuarbeiten.

*Eidgenössische Ethikkommission für Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH)