Interviews Pferde

Interview: „Der Mensch missachtet die Grundbedürfnisse der Pferde“

Seit 25 Jahren erforscht Gertrud Pysall die Sprache domestizierter Pferde. Auf ihrem Hof in Nordrhein-Westfalen leben circa siebzig Großpferde und Ponys in unterschiedlichen Gruppen. Aus über 130 beobachteten Pferdevokabeln hat Pysall viele so übersetzt, dass sie vom Menschen anwendbar sind und von allen Pferden universell verstanden werden. Das von ihr entwickelte Motiva-Training ermöglicht ein tiefgreifendes Verständnis der innerartlichen Kommunikation und einen artgerechten Umgang mit dem Pferd.

Was bemängeln Sie an der gängigen Pferdehaltung?
Um mit dem Tier wirklich artgerecht umzugehen, muss man viel über das Wesen des Pferdes wissen. Im Grunde kann man sagen, dass dem Bedürfnis des Pferdes nach ausreichendem Sozialkontakt, Bewegung und ruhigen, ausgiebigen Raufutterzeiten Rechnung getragen werden muss, wenn man dem Tier gerecht werden will. Der Umgang mit den Tieren hat sich aber noch nicht an dieses neue Wissen angepasst. Nehmen wir beispielsweise Paddockboxen, in denen die Pferde einzeln stehen und die Möglichkeit haben, vor die Tür zu gehen. Sie sind zwar besser als die Boxenhaltung, geben dem Pferd aber keine Möglichkeit zur Kommunikation mit anderen Pferden. Es kann keine Freundschaften pflegen und sich nicht in seiner Sprache verständigen. Das bedeutet eine starke Einschränkung des Lebensausdrucks und damit der Lebensqualität.

Wie ist zu erklären, dass viele Pferdehalter ihre Tiere einerseits fast vergöttern, andererseits im Alltag tierschutzwidrige Hilfs- und Zwangsmittel einsetzen, um die Tiere gefügig zu machen?
Das Fluchttier Pferd hat seine eigenen Gesetze und Vorstellungen vom Leben. Lange glaubte man, durch Druck und Schmerz erzwingen zu können, dass es gegen seinen Instinkt Dinge tut. Die Techniken und Hilfsgeräte haben sich immer mehr perfektioniert und werden unter unterschiedlichen Deckmäntelchen als gut und richtig vermarktet. Das gilt auch für Trainingsmethoden. Indem man Dinge oder Tätigkeiten anders nennt, werden sie nicht harmloser für das Pferd. Solange es im Sport noch geduldet wird, Pferde zusammenzuschnüren und im Training Geräte angewendet werden dürfen, die Pferde unter Schmerzen in Haltungen zwingen, sehe ich wenig Hoffnung, dass viele Pferdehalter umdenken. Es wird ihnen immer wieder glaubhaft vermittelt, all das wolle das Pferd und es schade ihm nicht.

Was hat Sie dazu gebracht, Ihre Beziehung zu Pferden
grundsätzlich zu überdenken und zu verändern?
Ich hatte vor vielen Jahren einen Beinaheunfall mit einem Pferd. Mir ist damals daran bewusst geworden, wie wenig ich eigentlich von den Tieren verstehe, obwohl ich dachte, es sei anders. Ich wollte dieses Tier verstehen und fing an, meine 12-köpfige Pferdeherde zu beobachten. Dabei lernte ich, dass sie reden, dass Pferde in ständiger Kommunikation stehen und sich Dinge mitteilen. So hatte ich das nie gesehen. Ich fing mit meiner Forschung an und stellte fest, wie wenig man über Pferde weiß. In aller Fachliteratur, die ich hatte, stand darüber gar nichts drin, ich lernte durch Beobachtung und Versuch und Irrtum, mich mit ihnen zu unterhalten. Dadurch wurde mir klar, wie banal und vereinfacht Menschen der Umgang mit dem Pferd vermittelt wird, und wie falsch dadurch vieles wird.

Wie beurteilen Sie den wachsenden Markt der so genannten
natürlichen, beziehungsweise alternativen Trainingsmetho-
den und so genannter Pferdeflüsterer?
An der sogenannten natürlichen Ausbildung von Pferden, die ich kenne, ist so gut wie nichts natürlich. Das Pferd wird gezwungen, Dinge zu tun, die ihm widerstreben und mit Druck und – wenn es sein muss – Gewalt trainiert, bis es das macht, was man fordert. Dem Tier wird alles abgesprochen, was mit seinen Regeln und Bedürfnissen zu tun hat. Ich habe viele Pferde erlebt, die solche Trainings durchgestanden haben. Man kann einfach Gehorsam abrufen, aber seelisch sind sie gebrochen. Sie haben aufgegeben. Nichts von dem, was Pferde ausmacht, dürfen sie anwenden, nicht die Sprache, nicht die Regeln, nicht die Rituale. Für den oberflächlichen Beobachter sieht es toll aus. Das Pferd ist am seidenen Faden zu dirigieren, und es tut, was es soll. Da gilt es hinzusehen und sich zu fragen, warum ein Pferd irgendwann so wird und keinen eigenen Willen mehr hat und ob es das ist, was wir Menschen von Pferden wollen.

Ihr erstes Buch heißt „Was Pferde wollen“. Können Sie kurz
erklären, was Pferde wollen?
Das ist eigentlich ganz einfach. Sie wollen das, was wir auch alle wollen. Sie wollen verstanden werden. Pferde sind sehr soziale Tiere, sie sind geschaffen dafür, im Sozialverband zu leben und dort über eine rege Kommunikation in Verbindung mit den einzelnen Herdenmitgliedern zu stehen. Sie leben in einem sozialen Netzwerk, in dem Regeln den Alltag strukturieren und die Sicherheit der Einzelnen schützen. Mit dieser Erwartung tritt ein Pferd in der Menschenwelt auf und wird derb enttäuscht, weil Menschen diese Regeln missachten und über diese Grundbedürfnisse der Pferde hinwegtrampeln.

Was ist MOTIVA?
Ich habe das Kommunikationssystem der Pferde erforscht, also über 130 ihrer Vokabeln herausgefunden. Ich habe außerdem ihre sozialen Regeln ermittelt und zusätzlich die Rituale, womit die Pferde diese Regeln darstellen, erforscht und aufgeschrieben. Ich brauchte einen Begriff für diese komplexen Zusammenhänge und habe mir dazu das Wort MOTIVA einfallen lassen. Ich lehre diese Sprache interessierten Menschen und trainiere sie, damit sie ihre Pferde verstehen und auch selbst diese Sprache sprechen können. Dieses Training nenne ich Motivatraining ® und habe es als Marke eintragen lassen.

Was hat MOTIVA mit Tierrechten zu tun?
Mit dieser Antwort könnte man Bücher füllen. Jedes Tier hat das Recht auf respektvollen Umgang, Wahrung seiner Würde, artgerechte Haltung etc. Ohne dieses Thema bis in seine Tiefen zu erschöpfen, muss man sagen, Pferde haben sicher das Recht auf schmerzfreie Ausbildung, nicht gewaltsam unter-worfen zu werden, sich in natürlicher Art ernähren zu können, Bewegung zu haben und Artgenossen, um ihre dringenden sozialen Bedürfnisse auszuleben. Durch meine Lehre helfe ich den Menschen, Kompetenzen zu erwerben, um genau diese Rechte des Pferdes einzuhalten und zu sichern. Durch die „Sprachfähigkeit“ unter Beachtung der Regeln kann man sich Pferden stressfrei als Entscheidungsträger darstellen und dem Pferd die Entscheidung ermöglichen, sich freiwillig dem Menschen anzuschließen und gehorchen zu wollen. Der Mensch zeigt sich als vertrauenswürdig, weil er die Würde des Pferdes wahrt und respektvoll und wissend mit seinen Gefühlen und Bedürfnissen umgeht. Und darauf haben alle Pferde ein Recht.

Wie reagiert die „Reiterszene“ auf Ihre Forschungsergeb-
nisse?
Die Reaktionen sind sehr unterschiedlich. Mit Freude sehe ich, dass immer mehr Menschen verstehen, was ich sage. Sie probieren meine Forschungsergebnisse aus und erfahren, wie wohltuend es für Mensch und Pferd und die Beziehung zwischen beiden ist, MOTIVA anzuwenden. Allerdings gibt es nach wie vor Gegner, Menschen, die an den althergebrachten Methoden festhalten und diese verteidigen und rechtfertigen. Manche Pferdehalter machen sich sogar lustig. Das sind Menschen, die nicht verstanden haben, worum es geht. MOTIVA ist eben keine Trainingsmethode, die man anwendet oder nicht, sondern es ist tatsächlich das Kommunikationssystem der Pferde, was so noch nirgends gelehrt und erklärt wurde.

Wie können interessierte Menschen MOTIVA erlernen und
welche Voraussetzungen sollten sie mitbringen?
Auf unserem Hof bieten meine Tochter Franziska und ich unterschiedliche Kurse an, solche für Einsteiger und solche für die, die weiter lernen wollen. Voraussetzungen braucht man keine, außer den festen Entschluss, MOTIVA lernen zu wollen und den Mut, Althergebrachtes loszulassen und völlig neu zu denken. Vieles, was man routiniert immer gemacht hat, erweist sich plötzlich als falsch. Plötzlich bekommen Tätigkeiten und Denkweisen eine Bedeutung, wo man vorher meinte, es sei völlig egal. Es ist ein Umbruch, der spannend und lehrreich ist, wenn man diesen Weg geht. Ein „Jakobsweg der Erkenntnis“ könnte man sagen, je weiter die Menschen gehen, desto klarer wird alles.

Das Interview führte Alexandra Weyrather.