Industrielle Tierhaltung Interviews

Schlachtung: „Das Problem ist das System“

Die Tierärztin Nicole Tschierse arbeitet seit zehn Jahren in Schlachthöfen und versucht – wo immer möglich – Tierqual zu verhindern. Im Juni ist es ihr gelungen, elf trächtige Kühe und zwei junge Bullen vor der Schlachtung zu bewahren. Der Bundesverband unterstützt ihren Verein „weil Tiere lieber leben e.V.“ mit 5000 Euro, um ihr bei der Rettung der Tiere zu helfen. Tierrechte sprach mit ihr über die Schlachtung trächtiger Kühe, die Gefahr von Fehlbetäubungen, den Druck, unter dem sie als amtliche Tierärztin auf dem Schlachthof steht und warum sie der Meinung ist, dass statt Reformen nur die Abschaffung des Systems der (Aus-)Nutzung den Tieren wirklich hilft.

1. Tierrechte: Frau Tschierse, Sie arbeiteten zehn Jahre als amtliche Tierärztin auf einem Schlachthof nahe Augsburg. Was können Sie dort für die Tiere tun?

Nicole Tschierse: Das habe ich mich auch lange Zeit gefragt. Meine Möglichkeiten als amtliche Tierärztin sind ziemlich beschränkt. Was ich zum Beispiel tun kann, ist zu verhindern, dass unzulässige Treibmethoden angewandt werden. Bei Rindern, die aus Anbindehaltung kommen, hat man zum Beispiel oft das Problem, dass sie das Laufen nicht kennen. Wenn sie dann noch Angst vor den Geräuschen, den Gerüchen und den fremden Gebäude haben, „frieren“ sie ein. Sie stehen da wie die Salzsäulen und bewegen sich nicht mehr. Dann fangen die Treiber an, alles zu zücken, was rumliegt – auch richtig gefährliche Dinge, bei denen sie in Kauf nehmen, die Tiere schwer zu verletzen. Dann sage ich „Nein! So nicht!“ Ich mache den Arbeitern klar, dass es bei mir keine gebrochenen Schwänze gibt und dass ich nicht zulasse, dass sie die Tiere mit Mistgabeln aufspießen, mit scharfen Gegenständen verletzen oder mit Stangen auf die rausstehenden Knochen schlagen. Oft sind das ältere Männer, die mir dann erzählen, sie hätten das aber schon immer so gemacht. Dann muss ich mich fürchterlich aufplustern, damit sie mich ernstnehmen. Inzwischen haben sie alle Angst vor mir – und das ist auch ganz gut so.

2. Tierrechte: Was machen Sie, wenn eine Kuh vor Angst „einfriert“?

Nicole Tschierse: Um eine Kuh zum Weitergehen zu bewegen, muss man mit Rindern umgehen können. Das kann ich zum Glück mittlerweile, weil ich eigene Rinder habe. Es ist eine Mischung aus Technik, Gefühl für den richtigen Moment und Geduld. Viele Schlachthofmitarbeiter und Kollegen können das jedoch nicht.

3. Tierrechte: Aber Sie konnten auch schon Tiere vor der Schlachtung retten?

Nicole Tschierse: Ja, zum Glück. Das brauche ich auch für mein Seelenheil. Das sind natürlich nur Einzeltiere und viele Leute fragen mich dann „und was ist mit den anderen Millionen von Tieren?“ Dann sage ich: Dem einen Tier ist das völlig egal. Es hat nur dieses eine Leben. Außerdem kommen die von mir geretteten Tiere alle irgendwo hin, wo die Leute sie sehen können. Sie sind über Facebook bekannt und haben mittlerweile eine Fangemeinde, die irgendwann feststellt: Sie mögen Kühe oder sie mögen Schweine – und zwar lebendig.

Viele Leute überdenken dann ihre Verhaltensmuster. Jeden Euro, den ich jemals an irgendeinen Händler oder Bauern bezahlt habe, um die Tiere freizukaufen, büßen diese doppelt, weil ich ihnen am Ende ihr Geschäft kaputt mache. Das Ganze hat eine Wellenwirkung.

4. Tierrechte: War es von Anfang an Ihr Plan, irgendwann auf einem Schlachthof zu arbeiten?

Nicole Tschierse: Nein, überhaupt nicht. Solche Gedanken habe ich mir damals gar nicht gemacht. Ich habe zwar mit zehn Jahren aufgehört Fleisch zu essen und im Winter Frauen mit Pelz angesprochen – aber ich war eher nur Hobbytierhalter, kein Tierrechtler. So bin ich auch ins Studium gegangen. Wenn ich mit der Einstellung, die ich heute habe, studiert hätte, dann hätte ich das Studium wahrscheinlich gar nicht durchgezogen. Denn es gibt da zu viele Dinge, die überhaupt nicht akzeptabel sind. Nachdem ich in einer Kleintierpraxis gearbeitet hatte und mich irgendwann selbstständig machen wollte, kam es, dass der Amtstierarzt mich quasi anflehte, ihn bei der Fleischbeschau zu vertreten, weil er niemanden hatte.

5. Tierrechte: Warum haben Sie sich dafür entschieden?

Nicole Tschierse: Ich musste erstmal darüber nachdenken. Als Vegetarierin fühlte ich mich dazu nicht gerade prädestiniert. Nun ist es vom Handwerklichen her nicht so schwierig und gehört zur Ausbildung. Deswegen dachte ich, ich probiere das jetzt einfach. Es ist ein regelmäßiges Einkommen und ich wusste nicht, wie die Praxis läuft. Am Anfang war es auch gar nicht schlimm. Ich habe ab und zu eine Hygienekontrolle gemacht in einem Betrieb, der Currywürstchen abpackt.

6. Tierrechte: Aber es blieb nicht bei der Hygienekontrolle?

Nicole Tschierse: Nein. Ich begann ab und zu Vertretungen im Schlachtbetrieb zu machen. Am Anfang habe ich auf der Heimfahrt Rotz und Wasser geheult, habe drei Stunden heiß geduscht und hatte trotzdem immer noch diesen furchtbaren Geschmack im Mund.

7. Tierrechte: Wie ertragen Sie die Arbeit auf dem Schlachthof?

Nicole Tschierse: Ich bin mittlerweile durch alle Phasen durch. Ich habe geheult, habe mich bei der Arbeit in mein Kämmerchen verdrückt und es mir nicht angeschaut. Ich habe die Zähne gezeigt, ich habe mit allen Waffen gekämpft und versucht, das Maximum für die Tiere rauszuholen. Ich habe sogar Psychologiebücher gelesen, um herauszubekommen, wie ich am besten Einfluss auf die Mitarbeiter im Schlachthof nehmen kann. Die meiste Kraft habe ich daraus geschöpft, wenn ich ein Tier retten konnte und sehe wie es sich entwickelt.

8. Tierrechte: Wie kam es zur Gründung Ihres Vereins?

Nicole Tschierse: Ungefähr 2009 begann ich, anders damit umzugehen. Dann wollte ich alles über das Schlachten wissen. Wie es abläuft und was dabei schiefgeht. Damit mir keiner mehr irgendwas zu dem Thema erzählen kann. Ich habe angefangen darüber zu schreiben und bin vegan geworden. Irgendwann saß ein Fleckviehkalb in der Bucht, bei dem es sich ergab, dass ich es mitnehmen konnte – das war damals rechtlich noch möglich. Ich bemühte mich, immer mehr Tiere rauszukaufen. Ich startete die erste Sammelaktion auf Facebook. Dadurch bin ich relativ bekannt geworden, meine Texte wurden plötzlich gelesen und sogar als Broschüren gedruckt. Um noch mehr Tiere retten zu können, habe ich dann den Verein gegründet.

9. Tierrechte: Wurden Sie manchmal gefragt, was Sie als Veganerin auf einem Schlachthof zu suchen haben?

Nicole Tschierse: Ja, sehr oft sogar. Aber ich finde, dass gerade Leute wie ich dort bei den Tieren sein müssen. Nur in dieser Position kann man überhaupt irgendwas machen. Wenn ich beim Schlachthof selbst angestellt wäre und nicht beim Amt, wäre ich die erste, die hochkant rausfliegt.

10. Tierrechte: Wie lange wollen Sie das noch weitermachen?

Nicole Tschierse: Ich habe immer wieder überlegt aufzuhören. Nach zehn Jahren bin ich jetzt soweit, dass ich damit aufhören muss, um selbst keinen Schaden zu nehmen.
Meine Kräfte schmelzen dahin. Ich stoße zunehmend an meine Grenzen und auch an die Grenzen der Rechtslage. Die beschneidet meine Möglichkeiten immer mehr. Mittlerweile ist es nicht mehr möglich, Tiere lebend aus dem Schlachthof rauszuholen.

11. Tierrechte: Prof. Jörg Hartung von der Tierärztlichen Hochschule Hannover geht davon aus, dass Schweine bei der Betäubung mit Kohlendioxid unter Erstickungsangst leiden. Ähnliche Probleme gibt es bei Schafen. Bei Kühen muss ein zweites Mal mit dem Bolzenschussgerät der Stirnknochen durchschossen werden. Auch bei Hühnern kommt es vor, dass sie unzureichend im Elektrobad betäubt werden. Weitere Qual wartet auf fehlbetäubte oder nicht richtig entblutete Tiere. Schweine gelangen bei vollem Bewusstsein in die Brühanlage. Rinder durchlaufen den Schlachtvorgang, bei dem sie zerlegt werden, unbetäubt. Was für Erfahrungen haben Sie in Bezug auf Fehlbetäubungen auf dem Schlachthof gemacht und wo sehen Sie die größten Missstände?

Nicole Tschierse: Damit es nicht zu lang wird, beschränke ich mich auf Schweine und Rinder. Bei der Betäubung mit Gas bei Schweinen kann es aus unterschiedlichen Gründen zu Fehlbetäubungen kommen. Wenn die Anlage beispielsweise nicht optimal funktioniert, kann es passieren, dass die Konzentration des Betäubungsgases nicht ausreicht. Die Tiere werden dann gar nicht bewusstlos oder kommen schnell wieder zu sich. Ein anderer typischer Fehler ist, dass zu viele Tiere in die Gondeln getrieben werden. Da das Gas schwerer als Luft ist, herrscht nur am Boden der Gondel eine ausreichende Gaskonzentration. Bei zu vielen Tieren können sich einige an anderen aufrichten. Durch die Bewegungen der Schweine wird das Gas aufgewirbelt. Alle Tiere bekommen Atemnot und Todesangst, aber nicht alle verlieren das Bewusstsein, schon gar nicht innerhalb der vorgesehenen Zeit. Die Schweine haben bei Gefahr den Trieb, zusammen zu bleiben. Die Tiere, wie vorgegeben, voneinander zu trennen, ist oft schwierig bis unmöglich und kostet zusätzlich Zeit. Zeit ist aber limitiert in einem Fließbandbetrieb. Allerdings verursacht auch eine korrekt funktionierende und bestückte Anlage eine unglaubliche Tierqual. Denn auch dann leiden die Tiere einige Minuten Todeskampf.

12. Tierrechte: Welche weiteren Betäubungsarten werden bei Schweinen angewandt?

Nicole Tschierse: Es wird auch mit der sogenannten Elektrozange betäubt. Eine ordnungsgemäße Betäubung kommt allerdings nur zustande, wenn das Gehirn des Schweines entsprechend lange Zeit bei ausreichender Stromstärke zwischen den Zangenpolen durchströmt wird. Da das Gehirn eines Schweines nur einen kleinen Bereich im Schädel einnimmt, ist es schwierig, die Zange richtig anzusetzen. Der Metzger muss das Tier ganz knapp und symmetrisch an den unteren Rändern der Ohröffnungen erwischen und beim ersten Versuch fest halten. Er muss sich beeilen und diese anstrengende und konzentrationszehrende Arbeit stundenlang ausführen.

Die häufigsten Fehler sind Abrutschen mit der Zange vor der Zeit oder nicht ganz korrekter Griff des Schweinekopfes. Dazu kommt, dass nicht alle Schweine exakt gleich gebaut sind und eine unterschiedliche Konstitution haben. Sie können nach diesem Versuch der Betäubung alle Abstufungen zwischen gar nicht betäubt und tot zeigen. Nicht wenige kommen also nach einiger Zeit wieder mehr oder weniger zu sich. Das bekommt der Metzger nicht zwangsläufig mit, weil da viele Tiere hängen. Zappeln ist kein sicheres Zeichen für Bewusstsein, auch ein totes Tier kann noch eine Zeit lang reflexhafte Bewegungen zeigen. Um das zu klären, muss man sehr viel genauer hinsehen. Aber auch dann bleibt ungeklärt, wie lange und stark es gelitten hat, bis es das erwünschte Stadium erreicht hat.

13. Tierrechte: Welche Probleme gibt es bei der Betäubung von Rindern?

Nicole Tschierse: Es gibt zwar auch beim Rind verschiedene Betäubungsarten. Ich werde mich aber auf den Bolzenschuss beschränken. Auch beim Rind muss der Metzger das Gerät genau an der richtigen Stelle mit Druck ansetzen. Beim Zünden durchstößt ein beweglicher Bolzen die Schädeldecke und verursacht durch den Druck des Schlages eine Lahmlegung des Gehirns. Die meisten Rinder geben dem Metzger jedoch keine Gelegenheit, lange nach dem richtigen Punkt zu suchen. Sie werden zwar in eine kleine enge Bucht gesperrt, in der kaum eine Bewegung möglich ist, aber sie schlagen dennoch mit dem Kopf. Außerdem sind natürlich nicht alle Rinder gleich groß, die kleineren Tiere haben also von Haus aus mehr Spielraum. Sehr schwierig ist es bei halbwüchsigen Jungrindern aus Weidehaltung, die in der Tötebox Saltos und Purzelbäume zustande bringen. Ganz schwierig wird es bei größeren Bullen. Die haben eine sehr dicke Schädeldecke und die kleinste Verkantung beim Ansetzen führt zum Misserfolg. Wird ein Schuss nachgesetzt, ist es noch schwieriger, das gewünschte Ergebnis nachträglich zu erzielen. Es hängt viel von Geschick, Kraft, Timing und allgemeiner Beweglichkeit des Metzgers ab.

14. Tierrechte: Sind Fehlbetäubungen also auch unter optimalen Voraussetzungen nicht auszuschließen?

Nicole Tschierse: Selbst gute Leute, die sich wirklich Mühe geben und mit korrekter Ausrüstung arbeiten, verursachen Fehlbetäubungen. Von den anderen Metzgern möchte ich gar nicht sprechen. Übrigens sind die meisten Rinder, die ich ohne ausreichende Betäubung an einem Bein aufgehängt gesehen habe, während ihnen schon der Hals aufgeschlitzt wurde, nicht durch exzessives Zappeln aufgefallen. Sie hingen immer recht ruhig, mit aufgerissenen, aber blinzelnden Augen und habe leise gemuht. Unter Schock und in der Gewissheit, dass es mit jeder Bewegung noch mehr weh tut.

15. Tierrechte: Erhebungen und wissenschaftliche Studien bestätigen, dass es regelmäßig vorkommt, dass trächtige Kühe geschlachtet werden (1). Können Sie das aus Ihrer Praxis bestätigen?

Nicole Tschierse: Ja, das kommt vor. Um auszuschließen, dass eine schwangere Kuh auf dem Schlachthof landet, müsste man jede Kuh auf Verdacht auf Trächtigkeit untersuchen. Aber das macht natürlich keiner, weil es kostet und aufwendig ist. Die meisten trächtigen Kühe, die bei uns angeliefert werden, sind Mastrinder aus Österreich. Die werden oft unkontrolliert auf der Weide gedeckt. Aktuell kommt es auch wegen Hofauflösungen vermehrt vor, dass trächtige Kühe geschlachtet werden. Oft sind die Besitzer psychisch erkrankt und können die Tiere nicht mehr versorgen. Die Tiere, die sich nicht mehr verkaufen lassen, weil sie beispielsweise nicht mehr genug Milch geben oder nicht mehr weiter aufgemästet werden können, gehen trächtig in die Schlachtung – auch in größeren Stückzahlen. In manchen Mastbetrieben ist es sogar so, dass man absichtlich einen Bullen zum Decken durchschickt, weil die Kühe dann ruhiger sind und schneller zunehmen. Ab und zu landen trächtige Kühe auch schlicht durch Fehldiagnosen oder wegen Inzest auf dem Schlachthof. Die Bauern befürchten, dass es dadurch zu Missbildungen kommt. Das kommt oft bei Weiderindern vor, wo noch ein Bulle da ist und nicht künstlich besamt wird.

16. Tierrechte: Nach der Riehn-Studie (1) befinden sich fast 90 Prozent der Kühe bereits im mittleren bis letzten Trächtigkeitsdrittel, wenn Sie auf dem Schlachthof ankommen Deckt sich dies mit Ihren Erfahrungen?

Nicole Tschierse: Ich glaube, dass man Trächtigkeiten im 1. Drittel nicht findet – die werden einfach gar nicht bemerkt. Man sieht einer Kuh meist nicht an, dass sie trächtig ist. Der Embryo ist dann noch so klein, dass man ihn nicht sieht, wenn die Innereien rauskommen. Der Tierarzt auf dem Schlachthof kann nicht jeden Uterus untersuchen.

17. Tierrechte: Wie läuft es ab, wenn eine hochträchtige Kuh getötet wird? Was passiert mit dem Kälbchen?

Nicole Tschierse: Das Kälbchen erstickt einige Zeit nach dem Tod der Mutter. Es dauert eine Weile bis eine Kuh am Schlachtband soweit ist, dass man sie aufschneidet. Wir hatten es zweimal, dass ein aufmerksamer Metzger an der Position Bolzenschuss Alarm schlug, weil da etwas strampelte. Wir haben dann die Kühe abgelassen, einen Kaiserschnitt gemacht und die Kälber herausgeholt. Ein fast entwickeltes habe ich auch zum Atmen gebracht. Leider ist es nach ein paar Tagen gestorben. Das andere konnte noch nicht selbst atmen. Da haben leider ein paar Tage gefehlt.

18. Tierrechte: Gibt es irgendeine Chance für ein lebensfähiges Kalb?

Nicole Tschierse: Nach geltenden Recht nein. Die Kälber dürfen nicht mehr aus dem Schlachthof raus. Es ist auch aus medizinischer Sicht schwierig. Viele Kälber überleben eine zu frühe Geburt nicht. Momentan dürfte ich aus Gründen des Seuchenschutzes noch nicht mal eine hochträchtige Kuh aus einem EU-Schlachthof rausholen, selbst wenn die Schlachtung verboten wäre. Die Kuh würde auf jeden Fall getötet. Das einzige, was ich für das Kälbchen tun kann, um den Todeskampf zu verkürzen, ist anzuordnen, dass ihm der Hals durchgeschnitten wird. Das ist sonst nicht üblich. Normal ersticken sie. Man weiß nicht genau, wie lange die Kälber noch leiden. Nach einer Studie ist es bei Schaf-Föten so, dass sie noch bis zu einer dreiviertel Stunde um ihr Leben kämpfen.

19. Tierrechte: Nach dem Tierschutzgesetz darf eine Tötung nur unter Betäubung erfolgen (§ 4a Abs. 1). Das gilt offensichtlich nicht für die ungeborenen Kälber?

Nicole Tschierse: Das Betäubungsgebot gilt nur für das Muttertier, das mit dem Bolzenschuss betäubt wird. Für das ungeborene Kalb gibt es keine rechtliche Vorgabe. Es hat selbst beim Menschen lange gedauert, bis menschliche Föten einen besseren Schutz bekommen haben. Das gilt für Tiere natürlich noch viel weniger – leider!

20. Tierrechte: Nimmt ein ungeborenes Kalb wahr, was mit ihm geschieht?

Nicole Tschierse: Man ist sich nicht einig darüber, ab wann ein Kalb empfindungsfähig ist. Tatsache ist, dass die weitentwickelten Kälber stark strampeln. Ich bin sicher, dass sie mitbekommen, dass gerade etwas ziemlich schiefläuft und dass sie erst die Angst und dann den Tod der Mutter mitbekommen.

21. Tierrechte: Wie sieht es mit anderen Tierarten wie Schafen oder Schweinen aus? Kommt es auch bei Ihnen vor, dass sie geschlachtet werden, obwohl sie hochtragend sind?

Nicole Tschierse: In dem Betrieb, in dem ich arbeite nicht. Ich weiß aber von Kollegen aus anderen Schlachthöfen, dass es bei Schweinen sonst sogar relativ häufig vorkommt. Bei Schafen kommt es auch vor, aber da habe ich keine Erfahrungen, weil bei uns keine Schafe geschlachtet werden.

22. Tierrechte: Man hört, dass die Bauern so unter Druck sind, dass sie sich tierärztliche Behandlungen nicht mehr leisten können. Was sind da Ihre Erfahrungen? In welchem Zustand kommen die Tiere auf dem Schlachthof an?

Nicole Tschierse: Das ist definitiv so. Die Tiere werden eher geschlachtet als behandelt. Nicht standardmäßige Behandlungen durch den Tierarzt sind nicht üblich. Sie sind für die Bauern zu teuer, die Prognosen sind oft unsicher und durch die Behandlungen kommt es wegen den Medikamenten zu Wartezeiten. Leider tragen auch die Diskussionen über Antibiotikarückstände in Fleisch und Milch dazu bei, dass einzelnen Tieren im Krankheitsfall seltener geholfen wird. Für die Tiere ist das ein Drama – keiner will ihnen helfen, auch wenn es nur eine vernünftige antibiotische Behandlung ist, die nötig wäre.

23. Tierrechte: Nach der EU-Tierschutztransportverordnung gelten trächtige Tiere in einem fortgeschrittenen Trächtigkeitsstadium als nicht mehr als transportfähig und dürfen gewerblich nicht mehr transportiert werden. Warum passiert es dennoch?

Nicole Tschierse: Oft ist nicht bekannt, dass sie trächtig sind. Außerdem überprüft das keiner. Und wenn das niemand zur Anzeige bringt, dann interessiert es auch keinen. Immerhin, nachdem ich einen Transporteur einmal aus diesem Grund angezeigt habe, ist der jetzt vorsichtig geworden. Der macht solche Transporte jetzt nicht mehr ohne weiteres. Solange es aber niemand ahndet und es der einfachste Weg ist, wird das gemacht.

24. Tierrechte: Wie ist dies generell: Werden Tierhalter oder Transportunternehmen für Tierschutzverstöße zur Rechenschaft gezogen?

Nicole Tschierse: Es ist extrem aufwendig und die Erfolgsaussichten sind relativ gering. Der Tierarzt muss unglaublich viele Beweismittel erbringen und im Vorfeld sichern, z. B. Stücke von gebrochenen Beinen. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es selbst bei schwerwiegenden Verstößen fast unmöglich ist, diese zur Anzeige zu bringen. Ich hatte zum Beispiel einen Bullern mit einem gebrochenen Oberschenkelknochen. Meiner Meinung nach war er schon mit dem Bruch geliefert worden. Doch der Tierarzt, der den Bestand vorher gesehen hatte, sagte, dass das Tier nicht auffällig gewesen wäre. Damit war die Sache erledigt.

25. Tierrechte: Erinnern Sie sich noch an andere Fälle?

Nicole Tschierse: Ich hatte mal einen Fall, da wurde bei einer trächtigen Kuh mit toten Zwillingen ein Abort eingeleitet. Die Nachgeburt kam nicht mit, was bei einer medikamentösen Einleitung üblich ist. Auf jeden Fall hätte man die Kuh längere Zeit behandeln müssen. Deswegen war der Rat des Tierarztes an den Bauern, die Kuh zeitnah schlachten zu lassen, was dieser noch am selben Tag umsetzte. Damit machte sich der beauftragte Transporteur strafbar, denn man darf eine Kuh nach dem Kalben zwei Wochen lang nicht gewerblich transportieren Nachdem der nächstgelegene Schlachthof die Kuh wegen des wässrigen Fleisches direkt nach einer Geburt nicht annehmen wollte, wollte der Transporteur die Kuh, die in einem erbärmlichen Zustand war, sogar noch zu einem zwei Stunden weiter entfernten großen Schlachthof bringen, dessen Betreiber das egal war. Das habe ich zur Anzeige gebracht und die Kuh außerdem gerettet. Das Verfahren hat sich dann über ein halbes Jahr hingeschleppt. Dann kann man häufig nichts mehr beweisen. Im Endeffekt hat der Transporteur 200 Euro Geldstrafe bekommen. Obwohl das eine lächerliche Strafe war, hat er danach versucht, mir das Leben zur Hölle zu machen. Da muss man sich warm anziehen. Da kann es auch mal passieren, dass man plötzlich zerstochene Autoreifen hat. Deswegen habe ich Verständnis für die Kollegen, die sagen, dass sie sowas dann eben einfach nicht gesehen haben.

26. Tierrechte: Warum gehen so viele sogenannte Milchkühe in die Schlachtung?

Nicole Tschierse: Es werden so viele Kühe geschlachtet, weil die Nachfrage da ist. Für Salami braucht man beispielsweise Fleisch von älteren Kühen. Das ist angeblich trockener. Außerdem werden die Kühe nicht alt. Das liegt daran, dass sie auf eine unnatürlich hohe Milchleistung hin gezüchtet werden. Mit fünf oder sechs Jahren ist eine sogenannte Milchkuh am Ende ihrer Kräfte.

27. Tierrechte: Was müsste passieren, damit sich dies ändert?

Nicole Tschierse: Es ist löblich, wenn man versucht, mit Gesetzen ganz krasse Tierquälereien zu verhindern. Ich bin dankbar für alle rechtlichen Vorgaben, denn sonst hätte ich überhaupt keine Handhabe. Grundsätzlich bin ich aber der Meinung, dass die ganzen kleinen Verbesserungen, wie mehr Auslauf oder ein bisschen mehr Beschäftigungsmaterial, nur Kosmetik sind. Das Problem ist das System. Selbst eine komplette Umstellung aller Betriebe auf Bio-Standard wäre immer noch schlimm genug für die Tiere. Außerdem könnte so nicht genug Fleisch produziert werden, um die derzeitige große Nachfrage zu befriedigen.

28. Tierrechte: Was kann jeder einzelne gegen diese Grausamkeiten tun?

Nicole Tschierse: Ganz einfach: Ich als Konsument entscheide das. Wenn ich nicht möchte, dass Tiere gemästet und geschlachtet werden, dann darf ich das mit dem Kauf von Fleisch und anderen tierischen Produkten auch nicht unterstützen.

 

(1) i Riehn K et al. (2010): Schlachtung gravider Rinder –ethische und rechtliche Aspekte