Der Abbau und letzlich die Abschaffung der Tierversuche geht nur über die tierversuchsfreien Verfahren. Denn sind dieser erstmal entwickelt, sind sie in der Lage, Fragestellungen für den Menschen besser zu beantworten als das Tier (1). Und sie haben noch einen ganz entscheidenden Vorteil: Sie sind ethisch sauber. Doch ohne einen umfassenden Masterplan, wie ihn die Niederlande 2016 vorgelegt haben, kann dieser überfällige Systemwechsel nicht gelingen.
In den letzten Jahrzehnten wurden einerseits grandiose neue Verfahren entwickelt wie die Human-on-a-Chip-Technologie, mit der man zukünftig Giftigkeitstests ohne Tierversuche durchführen kannund mehr. Andererseits ist es noch immer nicht gelungen, den leidvollen Augenreiztest am Kaninchen (Draize-Test) komplett abzuschaffen. Doch was muss passieren, damit tierversuchsfreie Verfahren schnellst möglich entwickelt und angewendet werden? Wo genau befinden wir uns heute auf dem Weg zum Ziel – dem Ende der Tierversuche? Eine Standortbestimmung und das Erreichen des Ziels sind nur mit Hilfe eines Masterplans möglich. Der aber fehlt bis heute.
Fehlt: Strategie für eine tierleidfreie Wissenschaft
Ein Masterplan muss den sehr komplexen Weg aufzeichnen, der von der tierexperimentellen Forschung zur tierleidfreien Wissenschaft führt. Jeder Projektmanager weiß, dass ein solcher Plan ein absolutes Muss ist, denn er enthält inhaltliche und zeitliche Strukturen, damit der Systemwechsel gelingt. Fehlt er, ist das Scheitern des Projekts vorprogrammiert. Die Politik sieht sich bishernicht in der Pflicht. Spätestens 2013 mit Anwendung des neuen EU-Tierversuchsrechts in Deutschland hätten die Regierungen von Bund und Ländern die Projektplanung gemeinsam mit Vertretern von Wissenschaft, Industrie, Behörden und Tierschutz erarbeiten müssen. Zwar berichten die Medien inzwischen gerne über Erfolge tierleidfreier Verfahren, sie thematisieren aber ebenso häufig die Unverzichtbarkeit der Tierversuche. Aus dem Dschungel dieser Meinungsäußerungen führt nur eine objektive Standortbestimmung, die den Fortschritt analysiert. Daran haben scheinbar nur wir Tierversuchsgegner ein Interesse. Doch wir erinnern die Politik an ihre Aufgabe.
Tierversuchsfreie Methoden explizit fördern
Grundvoraussetzung für eine ergiebige Forschung sind exzellente Wissenschaftler – je mehr, desto besser. Natürlich spielt Geld hierbei eine maßgebliche Rolle. In Deutschland stehen jährlich circa 84 Milliarden Euro Forschungsgelder zur Verfügung – eine gigantische Summe. Doch welche Beträge sind für die tierleidfreie Methodenentwicklung vorhanden? Das wird nirgendwo erfasst. Ebenso wird nicht darüber berichtet, dass die Kosten für die Entwicklung bis zur Praxiseinführung einer einzigen tierleidfreien Methode im Millionenbereichliegen können.
Neue Verfahren kosten Millionen
Die Höhe der zur Verfügung stehenden Forschungsgelder ist eine Sache, die tatsächlichen Kosten von der Entwicklung bis zur Umsetzung eines neuen Verfahrens eine andere. Dies zu berechnen ist schwierig, denn eine solche Rechnung muss unter anderem wissenschaftliches Personal, Labormaterial, Geräte, Ringstudien und die Kosten für die Anerkennung und Aufnahme in die Prüfvorschriften wie beispielsweisedas Arzneibuch umfassen. Wir haben dazu ein Beispiel aus der Praxis: Eine neue Testmethode brauchte 15 Jahre bis zur Akzeptanz und kostete insgesamt etwa 6 Millionen Euro. Das entspricht circa 400 000 Euro pro Jahr. Die Hälfte davon wurde durch die Anwender bezahlt, die andere durch öffentliche Förderung (u.a. BMBF, EU, ZEBET, DFG).
Bremsklötze für die Systemveränderung
Die speziellen Fördertöpfe für Tierversuchsalternativen (z.B. von BMBF, set, ZEBET) berücksichtigen die einzelnen 3R-Verfahren gleichermaßen. Das heißt, die Förderung macht keinen Unterschied zwischen systemverändernden (tierleidfreien) Methoden und systemerhaltenden Tierversuchen, die mit weniger Tieren und weniger Tierleid auskommen. Solche Programme sind Bremsklötze für die Systemveränderung. Ein Masterplan, der die tierversuchsfreie Forschung zum Ziel hat, muss Förderprogramme explizit für tierleidfreie Verfahren in angemessener Höhe ausweisen.
Forschungsschwerpunkte setzen
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) als größter Forschungsmittelgeber sollte zwei richtungsweisende Maßnahmen ergreifen: Als erstes sollte sie einen eigenen Etat zur Förderung tierversuchsfreier Verfahren einrichten. Zweitens sollte sie besonders dringliche Forschungsbereichefestlegen, für die vorrangig tierversuchsfreie Verfahren entwickelt werden müssen.Mehrere US-Behörden (z.B. die Umweltbehörde EPA) verfolgen dieses Prinzip seit 2010 in ihrem gemeinsamen Programm Tox 21.Für diese sogenannte „Top down“ Strategie kann die DFG ihre vorhandene Infrastruktur nutzen und Schwerpunktprogramme, Sonderforschungsbereiche und Exzellenzcluster für bestimmte Fragestellungen einführen, so wie sie dies für andere Forschungsbereiche bereits tut. Weitere Forschungsmittelgeber könnten nach dem gleichen Prinzip verfahren.
Praxisrelevanz muss besonders gefördert werden
Bisher erfolgen die Projektförderungen von unten nach oben („Bottom-up“-Prinzip). Hierbei entscheidet ausschließlich die wissenschaftliche Qualität über die Vergabe von Fördermitteln, nicht aber zusätzlich, ob die Fragestellung eine hohe Praxisrelevanz hat. Das birgt die Gefahr, dass die Fördermittel verpuffen und der Ausstieg aus dem Tierversuch verschleppt wird. Der „Top-down“-Ansatz hingegen ist eine zielgerichtete Steuerung der Innovationsanforderungen. Als es ernst wurde mit dem Tierversuchsverbot für Kosmetik in der EU, tierversuchsfreie Tests aber kaum vorhanden waren, hat die Kosmetikindustrie die „Top-down“-Strategie erfolgreich eingesetzt. Damals wurden neue Gremien eingerichtet wie die europäische Partnerschaft der Kosmetikindustrie zur Entwicklung tierversuchsfreier Methoden (EPAA). Gemeinsam mit der EU-Kommission haben die Kosmetikfirmen Gelder zur Entwicklung der fehlenden Tests bereitgestellt. Diese Maßnahme im Sinne einer Top-down-Strategie hat Schwung in die Entwicklung gebracht, auch wenn bisher nicht alle fehlenden Tests entwickelt werden konnten.
Fazit und Ausblick
Am Masterplan führt kein Weg vorbei. Der 2016 vorlegte Plan der Niederlande zeigt, wie es gehen kann. Wir wollen, dass auch Deutschland einen vergleichbaren Masterplan verfolgt. Dieser sollte eine Gesamtstrategie, ein Umsetzungsmanagement sowie ein Monitoring-Programm enthalten. Das Mindeste wäre es, dass Deutschland den existierenden niederländischen Abbauplan unterstützt. Nur so können Erfolge festgestellt und öffentlich gemacht werden. Dieser Masterplan sollte unter Federführung der Bundes- und Länderregierungen unter Beteiligung von Vertretern aller Stakeholder (Wissenschaft, Industrie, Behörden, Tierschutz/Tierrechte) erstellt werden.