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Interview zur EU-Wahl: „Die Tierindustrie gefährdet die Demokratie!“

„Dennoch stehen die Zeichen stehen auf Veränderung!“

Giulia Innocenzi entlarvt die Strategien die Agrarlobby. Foto: „Food for Profit“

Die Dokumentation „Food for Profit“ der italienischen Journalistin Giulia Innocenzi berichtet über die Folgen der industriellen Tierhaltung. Sie zeigt, mit welchen Strategien die Agrarlobby Einfluss auf EU-Abgeordnete nimmt. Mit einem Heer von Lobbyisten gelingt es ihr, nicht nur den Großteil der horrenden EU-Agrarsubventionen abzuschöpfen, die Fleischindustrie lässt sich sogar ihre Werbespots oder die Entwicklung neuer Qualzuchten durch die EU finanzieren. Vor diesem Hintergrund stellt die Filmemacherin die Frage, ob wir nicht längst in einer Lobbykratie leben. Doch es gibt auch Hoffnung.

Wie entstand die Idee zum Film Food for Profit?
Für mich begann alles mit Jonathan Safran Foers Buch „Tiere essen“. Als Fernsehmoderatorin habe ich im italienischen Fernsehen über Politik berichtet. Nachdem ich dieses Buch gelesen hatte, beschloss ich, die Massentierhaltung in Italien zu untersuchen, um deren negative Auswirkungen aufzuzeigen. Ich war schockiert, als ich erfuhr, wie diese Branche von der Europäischen Union finanziert wird. Das war der Moment, in dem ich beschloss, einen Dokumentarfilm zum Thema zu machen.

An wen richtet sich der Film?
Wir richten uns an Gemischtköstler und Bürger:innen im Allgemeinen. Vor allem an diejenigen, die nicht viel darüber wissen, was in der industriellen Tierhaltung passiert. Zum Glück funktioniert das. Viele Leute wollen unseren Film sehen. Dank der Vegan- und Tierrechts-Community sind wir unter den Top 10 der meistgesehenen Filme in italienischen Kinos.

Opfer der Milchindustrie: Ein totes Kalb wird „entsorgt“. Fotos: „Food for Profit“, Mescalito Film

Können Sie kurz zusammenfassen, wie die Lobby der Tierindustrie auf EU-Ebene arbeitet?
Brüssel ist nach Washington die zweitwichtigste Lobby-Hauptstadt der Welt. Hier sind 25.000 Lobbyisten aktiv. Ein Großteil arbeitet für die mächtige Agrar- und Lebensmittelindustrie. Sie wenden sich an Europaabgeordnete und bitten um ein Treffen. Ihr Ziel ist es, durch Änderungen Einfluss auf die Gesetzgebung zu nehmen und Subventionen für ihren Sektor zu erhalten. Dieses privilegierte Verhältnis haben die Bürger:innen, die die Abgeordneten wählen, nicht. Das ist nur Industrievertreter:innen vorbehalten. Um zu entlarven, was hinter verschlossenen Türen passiert, statteten wir einen Lobbyisten mit einer versteckten Kamera aus und filmten heimlich seine Treffen mit Europaabgeordneten. Wir konnten belegen, dass MEPs bereit sind, die Lobbyisten bei der Durchsetzung ihrer Vorschläge zu unterstützen. Sie wurden zu Helfern der Tierindustrie, weil sie glauben, sich so ihre Wiederwahl sichern zu können.

Ein einsames Ferkel in einer Mastanlage. Foto: „Food for Profit“, Mescalito Film

Was bedeutet das für die Demokratie?
Die eigentliche Frage ist: Leben wir in einer Demokratie oder in einer Lobbykratie? Der Lobbyismus hat eine enorme und zerstörerische Macht, und das ist nicht einmal transparent. Diese Macht müssen wir den Bürger:innen zurückgeben. Zusammen mit unserem Film haben wir deswegen auch politische Forderungen formuliert. Wir fordern beispielsweise, dass künftig ein Bürgerrat darüber entscheidet, wie die knapp 400 Milliarden Euro für die Gemeinsame Agrarpolitik ausgegeben werden sollen. Bisher entscheiden die Europäische Kommission, das Parlament und die Europaabgeordneten, wie dieser horrende Betrag verteilt wird. Das bedeutet, dass das Geld in die umweltverschmutzende Industrie der industriellen Landwirtschaft fließt. Aber das ist nicht die Landwirtschaft, die wir brauchen sollten, um die zahlreichen Krisen zu lösen, mit denen wir konfrontiert sind, wie Klimawandel, Artensterben und die Verschmutzung unserer Umwelt

Im Februar 2024 fand im EU-Parlament die Premiere statt. Wie waren die Reaktionen?
Die MEPs (Abgeordnete des Europäischen Parlaments), die die Veranstaltung moderierten, begrüßten den Film, weil sie sich gegen die industrielle Tierhaltung aussprechen. Sie zeigten ihn, obwohl sie ihn vorher nicht gesehen hatten – ein echter Erfolg für die Meinungsfreiheit. Bei der Show gab es im Publikum allerdings zwei Personen, die gestresst Fotos und Videos vom gesamten Film machten. Sie filmten insbesondere die Passagen, in denen wir über Lobbyisten und deren Einfluss auf MEPs berichteten. Ein Journalist fragte sie, warum sie das täten. Sie antworteten, dass sie von der Fleischlobby seien. Der Journalist fragte sie nach ihrer Meinung zum Film. Sie antworteten, dass diese Dokumentarfilme nützlich seien, weil sie der Branche helfen würden, besser zu werden. Das sagten sie vor den Kameras. Danach erhielten wir zwei Anzeigen, die sich gegen die Doku richteten. Drei aus der Fleischindustrie und eine von dem italienischen Europaabgeordneten Paolo De Castro. Er tauchte im Film auf, als er sich heimlich mit Lobbyisten getroffen hatte.

Einschüchterungsversuche ließen also nicht lange auf sich warten?
Nein, leider nicht. Die erste Anzeige kam von einem Fleischkonzern, der im Film vorkommt. Sie wollten nicht, dass ihr Name erscheint. Die zweite kam von einem anderen Fleischkonzern. Das war seltsam, weil er gar nicht im Film vorkam. Die Begründung war, dass er nicht mit dem Film in Verbindung gebracht werden sollte. Der dritte Haftbefehl war der gefährlichste: Er kam auch von einem Fleischkonzern aus,  richtete sich aber gegen einen Bürger, der unsere Doku öffentlich gezeigt hatte. Das war ganz klar ein Versuch, die Meinungsfreiheit zu beschneiden. Der vierte Gerichtsbeschluss stammte von dem genannten MEP Paulo De Castro. Er wollte, dass wir jede Passage aus dem Film herausschneiden, in der er gezeigt wird. Doch das werden wir nicht tun – im Gegenteil. Wir wollen erstmal sehen, ob er sich nach diesen Enthüllungen überhaupt noch als Kandidat für die EU-Wahl halten kann.

Einer Kuh wird gewaltsam Antibiotika verabreicht. Fotos: „Food for Profit“, Mescalito Film

Könnte es sein, dass Sie es so schaffen, EU-Kandidaten zu Fall zu bringen?
Allerdings. Das ist uns schon gelungen. Die spanische MEP Clara Aguilera, die wir im Film gezeigt haben, wird nicht erneut kandidieren. Wir haben sie heimlich gefilmt, als sie sagte, dass ihr das Schicksal von Hühnern, Schweinen und Katzen egal sei. Sie esse sie alle. Dieser Satz verbreitete sich rasant in allen spanischen Medien. Daraufhin gab die Sozialistische Partei bekannt, dass Aguilera nicht mehr kandidieren wird. Jetzt warten wir ab, ob mit Paulo De Castro, der von der Fleischindustrie bezahlt wird, dasselbe passiert. Dies zeigt, was man mit einem Dokumentarfilm erreichen kann. Die Macht der Bilder ist stark.

Die Fleischindustrie will die Zulassung von Qualzuchten, wie diese Nackthühner, in der EU erreichen. Foto: „Food for Profit“, Mescalito Film

Einer neuen Studie zufolge fließen derzeit rund 82 Prozent der EU-Agrarsubventionen in die Produktion tierischer Produkte. Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung fordert eine Wende in der Landwirtschaft und Ernährung. Neben nachhaltigen Anbaumethoden empfiehlt es eine pflanzenbasierte Ernährung und eine Abgabe für Produktionsmethoden, die der Biodiversität schaden. Was halten Sie von solchen Ansätzen?
Ja, das geht in die richtige Richtung: Europa sollte sich nachhaltig und pflanzenbasiert ernähren. Das wäre nicht nur gut für Tiere und den Planeten, sondern auch gut für die menschliche Gesundheit. Im Moment passiert leider genau das Gegenteil: Wir finanzieren die industrielle Landwirtschaft mit unseren Steuergeldern. Die EU fördert sogar die Werbung der Fleischindustrie. Einerseits warnt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) davor, dass rotes Fleisch Krebs erregend ist. Andererseits finanziert die EU Werbespots für Fleischprodukte. Und es geht noch weiter: Wir konnten filmen, dass die Lobbyorganisation Copa Cogeca daran arbeitet, dass gentechnisch optimierte Tiere EU-weit zugelassen werden. Wenn sie Erfolg hat, wäre es möglich, blinde und federlose Hühner zu züchten, Schweine mit sechs Beinen oder Kühe ohne Hörner. Für solche Qualzuchten könnte die Tierindustrie sogar noch Forschungsgelder einstreichen. Bis zu 10 Millionen Euro vergibt die EU für Pilotprojekte. Als Argument dient, dass man so mehr Nahrungsmittel für hungernde Menschen produzieren könne.

Schweine in einer Mastanlage, eines mit einem ballgroßen Tumor. Fotos: „Food for Profit“, Mescalito Film

Zur Situation in Italien: Haben sich die Bedingungen für Tiere mit der Meloni-Regierung geändert?
Der Meloni-Regierung hat mit Tierschutz nichts am Hut – im Gegenteil. Sie ist die Stimme der Landwirte und Jäger und pumpt Geld in das System. Sie sagen, dass die Landwirte großartige Arbeit leisten, dass wir in Italien gar keine Massentierhaltung hätten und dass wir die besten Kontrollen der Welt haben. Jedes Mal, wenn wir eine neue Recherche aus der industriellen Tierhaltung ausstrahlen – ich arbeite auch für „Report“, die wichtigste investigative Fernsehsendung im  öffentlichen italienischen Fernsehen – behaupten sie, das seien nur Einzelfälle. Grundsätzlich sei das System gesund. Den Klimawandel leugnen sie auch. Und Italien ist die erste und einzige Regierung der Welt, die kultiviertes Fleisch verboten hat. Das Gesetz haben sie nur verabschiedet, um der Bauerngewerkschaft einen Gefallen zu tun. Dabei ist das reine Symbolpolitik. Denn nur die EU kann darüber entscheiden, ob kultiviertes Fleisch zugelassen wird oder nicht.

Die italienischen Politiker nutzen die gleichen Begründungen wie die Deutschen…
Ja, aber die Probleme der industriellen Tierhaltung sind überall auf der Welt die gleichen. Wir ignorieren die natürlichen Grundbedürfnisse der Tiere. Sie werden wie Produkte gesehen und auch so behandelt.

Fotos: „Food for Profit“, Mescalito Film

Alarmiert durch die Proteste der Landwirte untergräbt die EU-Kommission derzeit viele Umweltregelungen des Green Deals (wie die Verschiebung der Reform der Tierschutzgesetzgebung, der Stopp des Gesetzes zur Wiederherstellung der Natur, usw.). Haben Sie trotzdem Hoffnung, dass Tier-, Umwelt – und Klimaschutz bei der Wahl berücksichtigt werden?
Einerseits habe ich wenig Hoffnung. Konservative und rechte Parteien werden im nächsten EU-Parlament wahrscheinlich in der Mehrheit sein. Einige Abgeordnete leugnen noch immer, dass es in Europa überhaupt Massentierhaltung gibt. Andererseits sehe ich aber auch, dass sich die öffentliche Meinung ändert. Das merken wir auch bei unserem Film. Wenn die Leute sehen, was tatsächlich mit den Tieren passiert und welche Folgen das für die Umwelt hat, sind sie schockiert und wollen etwas dagegen unternehmen. Wahrscheinlich werden wir diese Veränderung bei diesen EU-Wahlen noch nicht sehen, aber ich glaube fest daran, dass diese Veränderung kommt. In zehn Jahren wird Vieles völlig anders sein. Ich setze meine Hoffnungen dabei auf die Bürger, nicht auf die Politiker. Wir sind gezwungen, uns zu ändern, und deshalb muss auch die Politik sich ändern.

Fotos: „Food for Profit“, Mescalito Film

Als gemeinnützige NGO dürfen wir keine Wahlempfehlungen abgeben. Doch wir dürfen den Wähler:innen Tipps geben. Worauf sollten sie – Ihrer Meinung nach – bei der Wahl der Partei achten, wenn ihnen Tiere, Klima und Umwelt am Herzen liegen?
Zuerst ist es wichtig, dass sie überhaupt wählen gehen. Bevor sie sich für eine Partei entscheiden, sollten sie die Wahlprogramme prüfen. Was planen die Parteien beispielsweise gegen Klimakrise, Tierquälerei und Umweltzerstörung? Einige EU-Abgeordnete sind immer noch der Meinung, dass es sich dabei um Themen zweiter Klasse handelt. Tatsächlich sind das die wichtigsten Themen für uns. Denn sie entscheiden letztlich, ob wir auf diesem Planeten überleben können.

Die Fragen stellte Christina Ledermann

Möchten Sie den Film „Food for Profit“ in ihrem Kino, ihrem Gemeindehaus oder in ihrem Wohnzimmer zeigen?

Die Filmemacher rufen dazu auf. Alle Informationen finden Sie unter: www.foodforprofit.com