Europawahl 2019

Interview: „Wählen zu gehen ist eine moralische Verpflichtung!“

Der renommierte Tierschutzjurist und Autor des Kommentars zum Tierschutzgesetz Dr. Christoph Maisack. Foto:

Der renommierte Tierschutzjurist und Autor des Kommentars zum Tierschutzgesetz Dr. Christoph Maisack spricht im Interview über die Bedeutung der EU-Wahl für den Tierschutz. Trotz dürftiger Fortschritte, appelliert er an die Wähler und Wählerinnen zur Wahl zu gehen. Denn Verbesserungen für die Tiere kann es nur geben, wenn sich möglichst viele Abgeordnete im EU-Parlament für den Schutz der Tiere einsetzen.

Welche Bedeutung hat die EU-Wahl für den Tierschutz?
Dr. Christoph Maisack: Die EU erlässt Vorschriften, die für das Wohl der Tiere in den Mitgliedstaaten eminent wichtig sind. In der Vergangenheit hat sie für den Bereich „Landwirtschaft“ Richtlinien mit Mindestanforderungen zur Haltung von Kälbern, Legehennen, Masthühnern und Schweinen erlassen. Außerdem sind Verordnungen ergangen, mit denen das Transportieren und die Schlachtung von Tieren geregelt werden. Aufgrund ihrer Kompetenz zur Regelung des sogenannten Binnenmarkts hat sie außerdem die EU-Tierversuchsrichtlinie erlassen, die regelt, unter welchen Voraussetzungen Tierversuche genehmigt werden können.

Welche Bedeutung hat das EU-Parlament?
Dr. Christoph Maisack: Für Rechtsakte wie Richtlinien und Verordnungen gilt das sogenannte ordentliche Gesetzgebungsverfahren. Das heißt, ein Rechtsakt kommt nur zustande, wenn ihm sowohl das EP als auch der Rat zugestimmt haben. Gegen den Willen der Mehrheit des EPs kann also kein EU-Gesetz zustande kommen. Daraus folgt: Wenn beispielsweise in dem für Landwirtschaft zuständigen Ausschuss genügend Abgeordnete säßen, denen der Tierschutz etwas bedeutet, könnte das sehr schnell zu einer anderen, tierschutzfreundlicheren Landwirtschaftspolitik in Europa führen.

Welche Gremien setzen sich für den Tierschutz ein?
Dr. Christoph Maisack: Tendenziell hat die EU-Kommission – sie macht die Gesetzgebungsvorschläge, über die dann der Rat und das EP abstimmen – in der Vergangenheit immer wieder versucht, etwas mehr Tierschutz durchzusetzen. Beispiel EU-Tierversuchsrichtlinie: Hier sah der erste Entwurf der EU-Kommission immerhin vor, dass auf Tierversuche, die für Tiere mit erheblichen und zugleich länger anhaltenden Schmerzen oder Leiden verbunden sind, vollständig verzichtet werden sollte. Ein weiterer Anlauf für mehr Tierschutz ist der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission, neun Tierschutz-Ziele zu definieren. Damit sollen die Mitgliedsstaaten verpflichtet werden, eine Strategie für die Umsetzung von Tierschutzprogrammen zu entwickeln.

Wie tierfreundlich ist das EU-Parlament?
Dr. Christoph Maisack: Auch das EP hat sich in der Vergangenheit für mehr Tierschutz eingesetzt. Im Februar hat es beispielsweise gefordert, die EU-Tiertransportverordnung zu verschärfen, und ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Schlachtungen in bestimmten Drittländern, in die Tiere von der EU aus transportiert werden, mit extremen und langandauernden Leiden und regelmäßigen Verstößen gegen internationale Normen der Weltorganisation für Tiergesundheit einhergehen.* Nun ist die EU-Kommission gefordert, einen Vorschlag zur Änderung dieser Verordnung vorzulegen. Das EP könnte in dem sich anschließenden Gesetzgebungsverfahren entsprechende Verbesserungen durchsetzen.

Welches Gremium arbeitet eher gegen Tierschutz-Verbesserungen?
Dr. Christoph Maisack: Der Rat der EU, in dem die Regierungen der 28 Mitgliedsstaaten vertreten sind, ist oft der Gegenspieler von Kommission und Parlament. Bezüglich der EU-Agrarpolitik (GAP) wollen die EU-Länder – allen voran leider Deutschland – beispielsweise am bisherigen pauschalen Fördersystem festhalten und zusätzliche Leistungen, wie Tier- und Umweltschutz, sogar noch aufweichen. Im Fall der Tierversuche hatte der Rat – unter Mitwirkung der deutschen Bundesregierung und der damaligen Wissenschaftsministerin Schavan – durchgesetzt, dass die schwerstbelastenden Versuche weiterhin erlaubt bleiben. Außerdem wurde durchgesetzt, dass viele Tierversuche, die nach dem Willen der EU-Kommission eigentlich nur nach vorheriger behördlicher Genehmigung hätten durchgeführt werden sollen, nur angezeigt werden müssen.

Was tut die EU-Kommission für mehr Tierschutz in der Landwirtschaft?
Dr. Christoph Maisack: Bei der derzeit anstehenden Reform der EU-Agrarsubventionen war es bisher so, dass jeder Landwirt in Deutschland pro Hektar Landwirtschaftsfläche circa 300 Euro pro Jahr bezieht, egal, ob es ein großer oder ein kleiner Betrieb ist, ob er die Tiere in Massentierhaltung hält, ob er sie möglichst artgerecht hält oder ob er überhaupt keine Tiere hält. Dabei könnte man – wenn die Direktzahlungen an die Landwirte halbiert und das freiwerdende Geld für Programme in den Bereichen Tier- und Umweltschutz verwendet würde – relativ schnell eine tiefgreifende Änderung der Tierhaltung in Europa erreichen. Die EU-Kommission – wie zuletzt auch das EP – hat wiederholt versucht, die Direktzahlungen stark zu kürzen und das eingesparte Geld für Umwelt- und Tierschutzleistungen zu nutzen. Aber auch hier blockiert Deutschland, obwohl im deutschen Grundgesetz sowohl der Tier- als auch der Umweltschutz als verfassungsrechtliche Staatsziele verankert sind. Es ist ein Trauerspiel, was unter der Regierung Merkel aus der Tierschutzpolitik geworden ist.

Warum stellt sich der Rat der EU gegen mehr Tierschutz?
Dr. Christoph Maisack: Das liegt daran, dass sich viele Regierungen – insbesondere die derzeitige deutsche Bundesregierung – bei ihren Entscheidungen an den Interessen der Bauernverbände und der landwirtschaftlichen Großbetriebe ausrichtet, statt an Umwelt- und an Tierschutz.
Über das EP kann ich also die Tierschutz-Pläne der Kommission unterstützen? Ja, so kann man es ausdrücken. Wenn es gelänge, im EP diejenigen Parteien zu stärken, die dem Tierschutz Vorrang vor den Interessen landwirtschaftlicher Großbetriebe einräumen, so könnte das EP zu der einseitigen Ausrichtung des Rates ein Gegengewicht bilden. So könnten die Bestrebungen der Kommission, die Direktzahlungen zu kürzen und stattdessen Tier- und Umweltschutz-Prämien auszuzahlen, Erfolg haben.

Welche Erfolge konnten bisher im Tierschutz erreicht werden?
Dr. Christoph Maisack: Die Erfolge sind bisher außerordentlich bescheiden. Das liegt hauptsächlich daran, dass im Rat der EU diejenigen Regierungen das Sagen haben, die nicht mehr Tierschutz wollen. Ein Beispiel kann man immerhin nennen: Gegen die fehlerhafte Umsetzung der EU-Tierversuchsrichtlinie in deutsches Recht hat die EU-Kommission 2018 ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland eingeleitet. Eine der hauptsächlichen Rügen geht dahin, dass das behördliche Genehmigungsverfahren für Tierversuche nach dem deutschen Tierschutzgesetz so ausgestaltet ist, dass nicht die Behörde, sondern der antragstellende Wissenschaftler das letzte Wort haben, ob der Tierversuch unerlässlich und ethisch vertretbar ist. Hier hat die EU-Kommission in aller Deutlichkeit gesagt, dass diese Verletzung der Tierversuchsrichtlinie von ihr nicht hingenommen werden wird. Es ist zu hoffen, dass auf dem Weg dieses Vertragsverletzungsverfahrens jetzt eine Änderung des deutschen Tierschutzgesetzes – man muss schon sagen, erzwungen – wird. Das könnte dazu führen, dass Tierversuche in Zukunft nur noch genehmigt werden können, wenn nicht nur nach der Darstellung des antragstellenden Tierexperimentators, sondern objektiv feststeht, dass für einen geplanten Versuch keine Ersatz- und Ergänzungsmethoden zur Verfügung stehen und dass der zu erwartender Nutzen gegenüber den Schmerzen, Leiden und Schäden der Versuchstiere überwiegt.

Was kann die EU-Kommission tun, wenn sich Deutschland widersetzt?
Dr. Christoph Maisack: Im Streitfall gilt EU-Recht. Wenn das nationale Recht gegen eine EU-Richtlinie verstößt, dann kann die Kommission – wie im Falle der Tierversuchsrichtlinie – ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Ein anderes Beispiel ist das 2013 eingeleitete Vertragsverletzungsverfahren wegen der nicht erfolgten Umsetzung der EU-Vorschriften zur Schweinehaltung. Wenn der EU-Recht verletzende Mitgliedstaat nicht nachgibt, kann die Kommission ihn vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) verklagen. Ob die Kommission das tatsächlich macht, hängt natürlich auch von politischen Erwägungen ab. Es kommt durchaus vor, dass Verstöße des nationalen Rechts gegen das EU-Recht geduldet werden.

Welche Fraktionen setzen sich im EU-Parlament für mehr Tierschutz ein?
Dr. Christoph Maisack: Mit Bezug auf die deutschen Abgeordneten im EP kann man das so eindeutig nicht sagen. Zumindest diejenigen Abgeordneten, die den Fraktionen der GRÜNEN oder Linken angehören, haben in der Vergangenheit oft für Tierschutz gestimmt, allerdings oft auch nicht die erforderliche Mehrheit gefunden.

Lohnt es sich dennoch zur Wahl zu gehen?
Dr. Christoph Maisack: Das lohnt sich nicht nur, das ist für Menschen, die mehr Tierschutz in Europa wollen, geradezu eine moralische Verpflichtung. Allerdings müssen die Wähler dann natürlich auch denjenigen Parteien und Kandidaten ihre Stimme geben, von denen sie annehmen, dass sie sich für den Tierschutz entscheiden.

Welche Tierschutz-Themen sind in der nächsten Legislatur dran?
Dr. Christoph Maisack: Neben der landwirtschaftlichen Tierhaltung muss die EU-Tierversuchsrichtlinie dahingehend geändert werden, dass schwerst belastende Tierversuche endlich verboten werden. Außerdem müssten tierexperimentell arbeitende Wissenschaftler verpflichtet werden – wie von der EU-Kommission ursprünglich vorgeschlagen – nach Abschluss des Tierversuchs eine retrospektive Bewertung vorzulegen. Aus dieser muss hervorgehen, inwieweit der im Genehmigungsverfahren prognostizierte Nutzen des Tierversuchs tatsächlich erreicht wurde. Wichtig wäre auch, dass Versuche in der Grundlagenforschung, die keinen konkreten klinischen Anwendungsnutzens haben, auf Tierversuche beschränkt werden, die den Belastungsgrad „leicht“ nicht überschreiten.

* Beschluss d. EPs v. 14. 2. 2019, P8_TA-PROV (2019) 0132